Österliche Tage in Ötztaler Gletscherwelt

Tag 1: Zugerichtete Gletscherwelt

Ganz hinten im Schnalstal beim Weiler Kurzras auf 2011 m duckt sich ein alt-verwittertes Bergbauernhaus im Schatten eines Hotelkomplexes, der wie eine Mini-Kopie von Anlagen aus Val-d’Isère ist. Riesige Parkflächen sind vor den Seilbahnanlagen, die nördlich, westlich und östlich auf die Bergflanken hinaufgebaut wurden. Im Restaurant, in dem wir vor dem Anstieg sitzen, gibt es nervige Musikbeschallung. Wir nehmen mit unseren Tourenski das Schneeband, das zwischen den inzwischen schon meist aperen braunen Hängen skurril wirkt. Eigentlich, so steht es auf einem Schild gleich zu Beginn des Aufstiegs, ist das Aufsteigen für „Ski Alpinismus“ gesperrt. Es sind nur knapp 800 Höhenmeter auf dem sulzig-nassen Schnee bis zur Schützhüte Bella Vista – Schöne Aussicht. Eine steilere Rinne bietet mir etwas Abwechslung mit ein paar Spitzkehren. Da ich mit dem Alpenverein Hall unterwegs bin, machte ich mir selbst keine Gedanken über die Routenplanung, wusste nicht einmal, dass unser Übernachtungsort am Rand vom Gletscherskigebiet ist. Das 125-Jahre alte  Gebäude erinnert mit den steinernen Mauern noch an klassische Alpenvereinshütten, zugleich hat moderner Zeitgeist hier am Rande der Liftanlagen seine Spuren hinterlassen. Ein Whirlpool und zwei Saunafässer stehen am Rande der „Hütte“ bei einem mit spiegelndem Alu verkleideten Gebäude. Dort ist auch der Skiraum. Zwei Nächte werden wir auf der Schutzhütte verbringen, verwöhnt mit einem Viergangmenü, das auch den relativ einsamen Vegetarier nicht vergisst. Ich nehme mir vor dem Abendessen Zeit, um alleine zur Bergstation des Sesselliftes aufzusteigen und in die Gegend ringsum einzutauchen. Auf der anderen Talseite geht die Grawand-Seilbahn auf 3212 m hinauf zum 3-Sterne-Glacier-Hotel. Mächtig thront die Finailspitze darüber. Es soll in diesem Hotel einfach alles geben, was man von einem Hotel erwartet. Ein Fitnessraum, Sauna, Luxuszimmer mit Sat-TV usw. In welcher Welt lebe ich? Zwei Skikanonen produzieren jetzt noch immer Schnee auf einer der Skipisten, die von den Ausläufern des Hochjochferners hinunterkommen. In der Abendsonne gehe ich allein bis auf das Joch im Hinteren Eis weiter (3253 m, vom Tal aus 1300 HM), wo sich der Panoramablick auf den mächtigen Hintereisferner, die Langtauferer Spitze und die Weißkugel in der Abendsonne bietet, eine hochalpine Gletscherwelt auf dieser Seite, die noch nicht für bestimmte Wirtschaftsinteressen und bestimmte Bedürfnisse von Menschen zurecht gerichtet wurde. Hinunter geht es wieder durch aufgeweichten sulzigen Schnee und dann über die Piste, in die ein Ratrac ein Feinrippmuster gewalzt hat.

Tag 2: Langtauferer Spitze 3528 m

Die Strecke hinauf zur Bergstation der Jochkogelbahn kannte ich bereits vom Vorabend. Von dort geht es nun steil rund 400 HM hinunter auf den Hintereisferner und angeseilt zu den Flanken der Langtauferer Spitze. Da sehe ich auch jene meteorologische Station wieder, die wie ein Adlerhorst auf einem Felsrücken über dem Gletscher steht. Ich hatte sie eigentlich schon vergessen. Einmal, in meinem „früheren Leben“ mit 18 Jahren, war ich mit einem Meteorologen ein paar Tage dort, um Messungen zu machen. Allein versuchte ich damals auch auf die Weißkugel zu steigen und scheiterte an der Flanke zum Schluss. Das war. Heute. Die Verhältnisse für unser Gipfelziel sind ideal. Harscheisen, Pickel und Steigeisen braucht es nicht. Vom Skidepot heißt es nur einmal sich kurz an den Granitfelsen festzuhalten und dann schon stehen wir auf dem Gipfel mit dem schönen Gipfelkreuz, in dem sich eine goldene Friedenstaube befindet. Ich möchte sie in die Ukraine schicken. Vom Hintereisferner hinauf zum Hinteren Eis wählen wir eine steilere Rinne und ich mache noch den kurzen Abstecher zum Gipfel mit dem kleinen unscheinbaren Holzkreuz. Dann hinunter zur Bella Vista mit all den Annehmlichkeiten. Heute waren es 1754 m im Anstieg.

Tag 3: Weißkugel 3739 m

Allein sitze ich vor der „Hütte“ und beobachte, wie auf den Bergspitzen die Sonne aufgeht. Nach dem ausgiebigen Frühstück geht es nochmals die mir inzwischen schon gut bekannte Strecke hinauf zur Bergstation der Jochkogelbahn, hinüber zum Joch auf rund 3200 und die steile Abfahrt 400 Höhenmeter hinunter zum Hintereisferner, auf dem wir uns wieder anseilen. Am Seil gehend, Schritt für Schritt, in dieser unglaublich weiten Gletscherwelt des Hintereisferners ist wie eine buddhistische Gehmeditation. Nördlich von uns sind die weiten Hänge der Langtaufererspitze, auf der wie gestern waren, vor uns der steile Gipfelaufbau der Weißkugel mit der Ostwand. Vorbei geht es heute unter einem Gletscherabbruch bis zur 35 Grad steilen Flanke. Der Gipfelgrat in leichter Blockkletterei und sehr ausgesetzt ist fast schnee- und eisfrei. Da brauchen wir heute keinen Pickel und keine Steigeisen. Anfangs hatte ich vor dieser Kletterei ziemlich Respekt, dann aber machen die Schritte und Tritte im harten Granit richtig Freude. Das Panorama am Gipfel ist beeindruckend. Im Südwesten die Ortlergruppe, im Westen meine Heimatberge mit dem weiten Gepatschgletscher, der Weißseespitze und dem Kaunertal dahinter. Wer von diesem Punkt aus rundum blickt, kann begreifen, dass die Ötztaler Alpen die größte Gletschermasse der Ostalpen bilden und die größte Anzahl an 3000ern hat. Ein ganzes Leben würde wohl nicht reichen, um auf all diese Gipfel zu klettern. Zum Glück wurde das Ansinnen der Gletscherskigebiet-Betreiber, das Langtaufers und das Melagtal mit dem Kaunertaler Gletscherskigebiet zu verbinden als der Alpenkonvention widersprechend abgewendet. Sonst würde ich heute auf der Weißseespitze vielleicht schon Liftstützen sehen. Zurück geht es nun über das Teufelsegg – noch einmal kurz hinauf, ein paar Spitzkehren sind es nur, dann eine Skitragepassage über Blockwerk und hinunter geht es mit den Ski zur Bergstation der Teufelseggbahn. Der Schnee wird immer sulziger. Auf dem Schneeband kurz vor den Talstationen in Kurzras wühlt sich ein Ratrac durch den Schneematsch. Ich blicke auf meine Uhr. Insgesamt waren es heute 1579 m im Aufstieg und 2430 m Abfahrt.

Ich blicke zurück auf drei Tage. Mein Danke gilt dem Haller AV, der umsichtigen Routenplanung und Menschen, die aufeinander Rücksicht nehmen. Gerne hätte ich bei der Fahrt hinaus durch das Schnalstal Halt gemacht in der Wallfahrtskirche von Unser Frau in Schnals mit der Schwarzen Madonna. Die Gebete werden nicht weniger und weniger wird auch nicht der Dank für das, was gelingt und mehr noch für das, was geschenkt wird. Im Etschtal blühen die Apfelbäume und staut sich der Verkehr. Schon vor Brixen bis hinauf auf den Brenner  ist ein Lkw-Stau. Ich denke an die Gletscherwelt zurück und die Erderhitzung, die diese Gletscher zerstören wird wegen des unverantwortlichen Tuns der Menschen.