Wenn auf den großen Karwendelbergen noch Schnee liegt, wenn unten im Tal die Felder tiefgrün sind und das Gemüse unter den Plastikplanen sprießt, wenn die Zeit für Skitouren dem Ende zugeht – dann lockt eine Spitze in meiner nächsten Nähe ganz besonders für die ersten Saisonbesteigungen. Auch diesen Gipfel habe ich längst in mein Herz geschlossen, sah ich ihn doch – gleichwie die Gipfel von Hochmahdkopf und den Zunterköpfen – vom Schlafzimmer aus. Der Einstieg liegt am Beginn des Halltales. Es geht über eine Brücke über den Weißenbach, wo ich gleich ein direktes Steiglein durch den Wald kenne, bis zu der neuen gelben Hinweistafel, die zur Alpensöhnehütte weist. Im Wald haben die Himbeerstauden jetzt am Ende des Aprils sanfte Blätter bekommen. Es geht nun die 1345 Höhenmeter fast stetig steil aufwärts. Im Tal unten läuten Kirchenglocken. Kurzes Innehalten auf der Halltaler Hütte. Es ist Weißer Sonntag und Kinder werden die Erstkommunion erhalten. Während ich gehe, denke ich an das heutige Sonntagsevangelium, das von der liebevollen Erzählung des Auferstandenen mit dem Apostel Thomas erzählt. Jesus hat Thomas eingeladen, seine Wunden zu berühren. Es geht um das Erspüren von Wahrheit. Unweigerlich streicht manchmal meine Hand gedankenversunken über einen verwitterten Baumstamm oder das kühle Nass vom Moos oder einen harten Kalkstein. Ich will spüren, spüren, dass ich lebe. Ab der Alpensöhnehütte, die ich beim Aufstieg meist links liegen lasse, braucht es schon etwas Spürsinn, um den Steig nicht zu verlieren. Die Markierungen sind dürftig. Dann wird es felsig und verlangt Trittsicherheit, es ist aber nie schwierig. In der Merklrinne sollten halt keine Steine losgetreten werden. In manchen Felsritzen hat die Frühlingssonne gelbe Schlüsselblumen hervorgelockt. Zum Glück ist die Hüttenspitze kein Modeberg, sonst wäre es wegen des Steinschlags gefährlich. Schön ist der Tiefblick die Winklerwand hinunter. Latschen wachsen fast bis zu dem kleinen felsigen Gipfel mit dem einfachen eisernen Gipfelkreuz. Der Latschen wegen hat die Hüttenspitze noch einen zweiten Namen: „Halltaler Zunterkopf“. Das Inntal erstreckt sich von Ost bis West unten aus. Man sieht richtig, wie sich die Siedlungsflächen immer mehr in die noch verbliebene Kulturlandschaft hineingefressen haben. Schroff und abweisend sind die steilen Kalkwände von Fürleg, Fallbachkarspitze und Wechselspitze im Hintergrund. Nord-westlich liegt die ganze Kette von Bettelwurf, Speckkarspitze, Lafatscher und Stempelkarspitze. Gegenüber ist die gestrige Route über die Zunterköpfe, Thaurer Jöchl und Issjöchl. In Gedanken an das heutige orthodoxe Osterfest habe ich Ostereier und einen Schokoosterhasen mitgenommen. Damit die Tour zu einer Art Runde wird, wird der Steig von der Alpensöhnehütte zurück zum Bettelwurfeck gewählt und es geht dann talaus durch das Halltal zum Ausgangspunkt. Beim Gehen denke ich an Worte, die gesagt wurden, beiläufige Worte mit großer Bedeutung. Beim Gehen lasse ich Gefühle zu, die mit Träumen und Visionen verknüpft sind und aufgehen wollen wie die Blüten von Blumen, Bäumen und Sträuchern im Frühling nach einem Winter, der schon viel zu lange dauert.