Der Regionalzug um 4.00 morgens von Innsbruck abfahrend ist gefüllt mit Jugendlichen, die nach nächtlicher Lokalbesuchstour in irgendeiner der Ortschaften Richtung Telfs aussteigen. Sie wirken müde und jene, die sich verliebt in den Armen liegen oder die Hände halten, wirken auch glücklich und zufrieden. Mit meinen Skischuhen, Tourenausrüstung inclusive Pickel bin ich wie ein Kontrastprogramm: Die einen gehen schlafen, ich breche auf. Mein Freund hatte mich gefragt, ob ich noch zum Skitourenausklang mit ins Ötztal kommen möchte. Obergurgl hat jetzt nach Saisonschluss die Aura eines Geisterdorfes. Riesige Hotelanlagen bestimmen das Ortsbild. Längst sind alle Liftanlagen geschlossen und die Touristinnen und Touristen haben den Ort verlassen. Dafür ist die Piste hinauf fast durchgehend noch befahrbar. Mitte Mai gibt es ja kaum mehr Möglichkeiten, sonst vom Tal weg ohne Skitragen eine Tour zu starten. Unser Ziel ist der Granatenkogel mit 3318 m. Er thront majestätisch am Ende des Verwalltales und erscheint fast unbezwingbar. Kaum zu glauben, dass sein Nordwestgrat nur den Schwierigkeitsgrad 1-2 aufweist und dass seine Nordwestflanke auch zur Abfahrt benützt werden könnte. Die Bedingungen sind heute nicht optimal. Von Beginn an gibt es Sulzschnee und immer wieder brechen wir knietief bis zum Boden ein. Auf beiden Seiten des Tales sind eine Menge Nassschneelawinen abgegangen. Die steile Flanke hinauf zum Joch wäre zu gefährlich. So gehen wir zunächst südlich auf eine Anhöhe hinauf, wo es aber auch kein Weiterkommen gibt. Bei der Abfahrt merken wir, wie die Schneeschicht sofort ohne Bindung an das Gelände abrutscht. Also wieder retour. Aber allein das Unterwegssein in dieser großartigen Berglandschaft hat sich ohne Gipfelerlebnis bereits gelohnt. Vorsichtig fahren wir nun das Tal hinaus bis zur Stelle, wo die Piste vom Tal hinaufkommt. Über die Piste, die noch immer einen festen Untergrund bietet, geht es dann wieder hinauf bis zum Ende der Bergstation und dann noch weiter bis zum Festkogl-Gipfel auf 3039 Meter. Hier sind noch drei andere Tourengeher, die vor uns die Spitzkehren in den Sulzschnee machten. Der Blick vom Gipfel ist großartig. Direkt vor uns ist der Granatenkogel – und es war gut, dass wir von diesem Ziel abließen. Wir schauen auf jene Stelle hinunter, wo wir waren. Alles ist extrem steil. Im Süden sind die mächtigen Berge über imposanten Gletscherbrüchen. Nach langem Schauen und Staunen fahren wir über den butterweichen Firn hinunter nach Obergurgl. Inmitten der Hotelburgen treffen wir keinen Menschen. Die Pfarrkirche wirkt inmitten der Hotelgiganten winzig. Ein schlichtes Zirbenholzkreuz hängt dort über der Altarinsel, die die alte Kirche von der neuen von Clemens Holzmeister konzipierten Kirche abtrennt. Der Tabernakel ist geschmückt mit 25 Granaten. So schließt sich hier der Kreis mit unserem Granatenkogel-Erlebnis.
k.h., 14. Mai 2022