eins sein

wo zwei Menschen sich annehmen
so wie sie sind
sich lieben und achten
dort ist Einssein spürbar
da bist du
du einende Gottkraft

wo Menschen im Streit sich versöhnen
sich verzeihen und vergeben
die Arme zur Umarmung sich öffnen
dort wird Einssein erfahrbar
du versöhnende Gottkraft

wo Waffen nicht mehr töten
militärisches Heldentum hat ein Ende
es wird nicht mehr gebombt und zerstört
dort wird Einssein mächtig
du gewaltfreie Gottkraft

wo die Schöpfung wird nicht länger zerstört
Menschen achten die Rechte der Tiere
Ressourcen werden geschont
dort wird Einssein universell
du schöpferische Gottkraft

wo Erde und Himmel sich verbinden
Leib und Geist zur Einheit sich finden
Körper und Seele Trennung verlieren
dort wird Einssein gegenwärtig
du verbindende Gottkraft

wo Frauen und Männer miteinander gehen
Junge und Alte aufeinander hören
Reiche mit den Armen teilen
dort wird Einssein alltäglich
du gegenwärtig nahe Gottkraft

wo Vielfalt als Bereicherung gesehen wird
Andersseindürfen als Geschenk erfahren wird
Heterogenität nicht in Homogenität erstickt wird
dort wird Einssein vielfältig
du regenbogenbunte Gottheit

klaus.heidegger
(zum Sonntagsevangelium, Joh 17,20-26)

„Johannes“

Der Evangelist Johannes, der legendarisch der Lieblingsjünger Jesu war, hinter dem sich aber letztlich die johanneische Gemeinde als Redaktionskollektiv verbirgt, legt Jesus in seinen Abschiedsreden die Sehnsucht von Einheit bzw. Einssein in den Mund. Aufgeschrieben wurde dieser Text um das Jahr 100, also 70 Jahre nach Tod und Auferstehung Jesu. Die jüdisch-christlichen Gemeinden waren zu dieser Zeit im ganzen römischen Reich verstreut. Das 17 Kapitel ist keine Rede mehr, sondern vielmehr ein Gebet. Das hohepriesterliche Gebet stellt die Brücke dar zwischen dem letzten Abendmahl und der Verhaftung Jesu. Jesus ist mit seinen Jüngerinnen und Jüngern am Ölberg im Garten von Gethsemani. Das Gebet spiegelt die johanneische Theologie wider. Wie ein roter Faden – vom Prolog bis zur Auferstehung – durchzieht dieses Evangelium die Aussage, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.

Gebet

Dort, wo unser Reden ein Ende hat, dort beginnt das Gebet. Johannes lässt Jesus also beten. In der johanneischen Chronologie ist dieses Gebet in der Nacht bevor Jesus stirbt. Und in diesem Augenblick denkt Jesus nicht an sich selbst, sondern an seine Jüngerinnen und Jünger – dass sie eins seien. Doch denkt er nicht nur an sie, sondern an alle Menschen, besonders auch an jene, die nicht an ihn glauben.

Wann und wo erleben wir selbst, dass das unsere Worte ins Gebet übergehen? Für mich sind es zwei Momente: Erstens dort, wo ich spüre, dass meine eigenen Kräfte nicht mehr ausreichen. Dann hat mein Gebet oft den Charakter der Klagepsalmen. Zweitens dort, wo ich Schönes und Großartiges erfahre. Dann wird mein Gebet zum Lobpreis des Göttlichen.

Vermächtnis

Das Gebet Jesu stellt praktisch eine Zusammenfassung seiner Botschaft und seines Lebens dar. Am Ende eines irdischen Lebens – die letzten Worte sozusagen – oder besser noch: der letzte Wille. Jesus betet am Ölberg die Worte:

21 that all of them may be one,

22 I have given them the glory that you gave me, that they may be one as we are one — 23 I in them and you in me — so that they may be brought to complete unity.

So wie Gott* und Jesus eine Einheit bilden, so sollen auch die Jüngerinnen und Jünger eins sein. Darin letztlich erweist sich die göttliche Ehre.

Einheit in der Vielfalt

Die wirkliche Erfüllung nach Einssein besteht aber nicht in Uniformität, sondern in einer Grunderfahrung, dass Vielfalt bereichern kann. Es ist eine Einheit in der Vielheit. Integration und Inklusion sind die Stichworte. Und in Beziehungen ist es die Erfahrung: Es ist schön, dass du anders bist, ich mag dich so sehr in deinem Anderssein. Ich mag dich gerade deswegen, weil du anders bist.

Realität

Als die Gemeinde des Johannes dieses Gebet Jesu in seinem Geiste um das Jahr 100 formulierte, ging sie auch von bestimmten Erfahrungen aus. Damals schon wird die johanneische Gemeinde die vielen Brüche und Widersprüche erfahren haben und um so inbrünstiger auch das Gebet Jesu nachvollzogen haben. Es gab vor allem die Konflikte zwischen den Glaubenden, einerseits jenen, die Jesus Die Bitte um Einheit und Einssein – to be one and complete unity – wie es in der englischen Übersetzung heißt.

Jesus betet, weil er scheinbar mit seinen großen Ansprüchen gescheitert ist. Selbst seine engsten Jünger haben ihn in diesem letzten Tag verlassen, von Petrus verleugnet, von Judas verraten und von den anderen heißt es, dass sie davonspringen. Jesus ist allein im Garten Gethsemani und er betet zu JAHWE.

Das heutige Evangelium macht uns daher auch wieder schmerzlich spürbar, in wie vielen Lebensbereichen und Lebensbezügen wir so weit weg sind von dieser Einheit. Es sind die politischen Dimensionen, über die es uns leichter fällt zu reden, weil sie mit weniger Emotionen behaftet sind.

Wir sind seit mehr als drei Monaten nun Zeuginnen und Zeugen eines der grauslichsten Kriege der Gegenwart. In der Ukraine wird Einheit zerstört.

Die fortschreitende Erderhitzung zeigt das Zerstörungspotenzial der gegenwärtigen Zivilisation und unseres Lebensstils.

In der hohen Inflation, verbunden mit Teuerungen in vielen Lebensbereichen, wird die Spaltung zwischen Armen und Reichen noch mehr virulent.

wie Gott* ist

In der Bibel wird das Teuflische immer als Prinzip benannt, das zur Spaltung und zu Zwietracht führt. Was zusammengehört, wird getrennt. Dies beginnt bereits im Mythos vom Sündenfall. Im teuflischen Wort der Schlange wird Gott* gegen den Menschen ausgespielt. Dies führt zum ersten Streit zwischen Adam und Eva und ihrem Schamgefühl und schließlich zur Vertreibung aus dem Paradies. Der Teufel ist der DIABOLOS, die Kraft, die Zerstreuung bringt. Das Gegenprinzip ist das SYMBOLISCHE, das, was zusammenführt und nicht spaltet.

Zu den 99 Namen Gottes im Islam zählt „Gott – der Eine“. Es sind die heilenden Momente in unserem Leben, wenn sich innere Zwiespälte auflösen, wenn wir Begegnungen haben, in denen wir Einheit spüren können, wenn wir in einer Gemeinschaft, in Beziehungen oder in den Familien Einheit als Gnade erfahren – und davon ergriffen sind.

Klaus Heidegger