Als Erdenbürger der Jetztzeit war ich und bin ich privilegiert, dass ich noch in die Gletscherwelt quasi vor der Haustür eintauchen kann. Spätere Generationen werden nur mehr Reste davon erleben können. Früher sah ich das Weiß des Zuckerhütls von daheim aus. Das „ewige Eis“ hat angesichts des menschengemachten Klimawandels ein rasches Ablaufdatum. Wir sind Mitte Juni für eine zweitägige Hochalpintour in die Stubaier Gletscherwelt aufgebrochen. Die Hitzewelle, die Tage davor in Spanien und Frankreich war und Waldbrände zur Folge hatte, ist in Österreich angekommen. Mit dem ersten Bus von Innsbruck aus kommen wir um 8.00 Uhr beim Parkplatz Sulzenau (1607 m) im hinteren Stubaital an. Die Sommersaison hat noch nicht richtig angefangen. Die Sulzenaualm (1.847 m) mit den merkwürdig geschnitzten Holzstühlen ist nicht bewirtschaftet. Der Gletscherbach schlängelt sich über den flachen Almboden und weiter oben stürzt er sich in einem prächtigen Wasserfall ins Tal hinunter. Majestätisch thront die Sulzenauhütte über dem Talkessel. Von dort geht es den Lübecker Weg zur Blauen Lacke, einem romantischen Bergsee, der vom Schmelzwasser des Sulzenauferners gespeist wird. Einmal hatte sich der Ferner bis hierhergeschoben. Die Moräne vor dem See erinnert an die ursprüngliche Größe des Ferners. Weit reichte er einmal ins Tal hinunter. Hinauf zur Fernerstube haben wir erstmalig Gletscherkontakt. Zwischen dem faulen Schnee des vergangenen Winters und dem aufgeweichten Eis darunter gluckst das Schmelzwasser. Fast ist es so, als würde der Gletscher angesichts der Erderhitzung kräftig weinen. Am Hang gegenüber donnert eine Gerölllawine die Nordflanke vom Wilden Pfaff hinunter. Aus Vorsicht vor den Spalten gehen wir angeseilt zum Einstieg der Kletterroute auf der Lübecker Scharte. Dann geht es über den Lübecker Grat und Freigergrat hinauf zum Wilden Freiger. Die Stellen mit II und die Ausgesetztheit fühlen sich für mich nicht als zu große Herausforderung an, weil alle schwierigen Stellen mit Drahtseilen und Trittbügel gesichert sind, vor allem aber ist es die achtsame Gegenwärtigkeit der Mitkletternden, die Sicherheit vermittelt. Oben am Freigergipfel (3418 m) können wir dann dankbar den Rundumblick in die Gletscherwelt genießen. Hier oben gibt es auch keine wirkliche Grenze zwischen zwei Staatsgebieten. Grenzen sind menschengemacht – so wie der anthropogene Klimawandel. Ich denke an so viele Grenzen, die wir Menschen uns machen und mit denen wir uns so manches Glück verhindern. Der Abstieg erfolgt über den Signalgipfel (3392 m) und dem an schwierigen Stellen versicherten und gut markierten Grat Richtung Becherhaus, um dann über einen weiteren Gletscher zur Müllerhütte zu kommen. Manchmal sinken wir tief in dem faulen Schnee ein. Schneebrücken über die Spalten würden bei diesen Temperaturen wohl kaum mehr dem Gewicht eines Menschen standhalten. Bei einem steileren Gletscherfeld geben die Steigeisen Sicherheit. Die Müllerhütte auf 3134 m ist einzigartig, weil sie nur über Gletscherwege erreichbar ist. Auf der Terrasse ist es so warm, dass wir mit T-Shirt und barfuß einen Rundumfernerblick erleben können. Von der gegenüberliegenden Bergflanke kollern wieder Steine hinunter. Anschauungsunterricht für das Auftauen von Permafrost. Der Felsgrat und die Wände hinauf zum Wilden Pfaff sehen sehr bröckelig aus. Das Zuckerhütl sieht inzwischen eher wie ein Pfefferhütl aus, weil es schon um diese Zeit sein Weiß verloren hat. Die Garmin-Uhr hat die Daten gespeichert: Vom Sulzenau-Parkplatz bis hierher waren es 1.936 m Gesamtanstieg und 17 Kilometer.
Tag 2: Ich spüre die Dankbarkeit für die großartige Bergwelt. Lange stehe ich auf der Terrasse, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Langsam zeichnen sich die Konturen der einzelnen Berggruppen heraus. Rot leuchten die weißen Gletscher und Felswände im Werden des Tages. Als Ziel haben wir zunächst die Sonnklarspitze (3444 m). Wieder geht es über einen Gletscher. Vorsichtig geht ein Erfahrener voraus. Allein würde ich die Stellen im freien Klettern im Schwierigkeitsgrat II über den steilen und ausgesetzten Grat – allerdings im festen Granitfels – nicht wagen. Bin jedenfalls erleichtert, dass wir zunächst auf die vergletscherte Gipfelhochfläche gelangen und dann auf der Spitze stehen mit einem phänomenalen Blick in die mächtige Bergwelt. Der Aufstieg zum Gipfel Hohes Eis (3388 m) ist kaum merkbar. Wieder vertraue ich den Erfahrenen, dass sie die Route hinunter zur Siegerlandhütte (2710 m) ins Windachtal finden, zunächst über Gletscher und dann den steilen Felsgrat, auf dem zum Glück schwachrote Punkte und etwas spärlich Steinmännchen sind. Im letzten Teil unterhalb des Grates geht es dann über gigantisches Blockwerk mit kräftigroten Felsblöcken zur Hütte. Und dann beginnt die 15 Kilometer-Wanderung hinaus nach Sölden. Es ist ein beeindruckendes Tal, das mir bislang völlig unbekannt war. Jetzt im Frühsommer ist die Blumenpracht auf den Berghängen und Almwiesen ganz besonders: Das Blau von Enzianen und Schusternagele, das Rosa der Alpen-Nelken, das Lila der Alpenglöckchen, das Gelb der Primeln und um diese Zeit vor allem der rote Almenrausch der Alpenrosen. Die Windache wird aufgrund der Bäche, die links und rechts von den Steilwänden rinnen, immer kräftiger. Weiter unten beginnt das Naturwaldreservat mit Silikat-Lärchen-Zirbenwald. Steil und in einer Schlucht fällt das Windachtal nach Sölden hinunter. Sölden: Von der Müllerhütte über die beiden 3000er Gipfel und die Siegerlandhütte waren 22 Kilometer, 2150 m im Abstieg und 475 m im Aufstieg. Nach hochalpinen Stunden in der Gletscherwelt und einem unberührten Hochtal ist es wie ein Sturz in eine andere Zivilisation, die nicht meine sein will. Westlich gehen die Söldner Bergbahnen hinauf ins Gletscherskigebiet am Rettenbachferner. Auf der anderen Talseite stimmt die Dorfbevölkerung von St. Leonhard an diesem Tag über den Zusammenschluss der Gletscherskigebiete von Pitz- und Ötztal ab. In Sölden lärmen die Autos auf der Durchfahrtsstraße. Horden von Motorradfahrern sind auf dem Weg zum Timmelsjoch. Es sind Spaßfahrten, die die Erderhitzung und damit den Gletscherschwund befeuern. Es wird gelebt, gefahren und gekauft, als gäbe es keinen Klimawandel, als gälte es nicht, das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Ein roter Porsche steht vor dem Lokal, in dem wir auf die Abfahrt vom Bus warten und das Flüssigkeitsdefizit beheben. Ich höre und blicke weg, will diese Tourismuswelt aber auch nicht verurteilen. Es ist nur nicht meine. Dankbar bin ich der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, die ich in unserer Gruppe in den zwei Tagen auf den Routen zwischen Stubaital und Ötztal erleben durfte. Passend zum Erlebnis von Hitze im Juni, von schmelzenden Gletschern, von auftauendem Permafrost und bröckelnden Bergriesen war es wohl wieder, dass es gelang, die Anreise ins hintere Stubaital und einen Tag später die Abreise von Sölden CO-2-freundlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu machen.