In meiner Jugendzeit bin ich vom Heimatort Prutz mit einfachem Aluminium-Rennrad – damals noch ohne Helm und mit schwerer Übersetzung – mehrmals allein über Reschenpass, Stilfserjoch, Umbrailpass, Ofenpass und dann das Engadin hinaus wieder bis zum Ausgangspunkt geradelt. Damals gab es weder Smartphone noch High-Tech-Messgeräte am Arm und wie viele Höhenmeter und Kilometer es waren, das war nicht von Interesse. Ich radelte einfach darauf los und war den Steigungen und Abfahrten, den Höhen und Tiefen einsam ausgesetzt. Heute weiß ich, dass es an die 3500 Höhenmeter und 200 Kilometer waren. Damals gab es vor allem aber weit weniger Verkehr. Heute meide ich diese Pracht-Passstraßen, weil sie von den Motorrädern terrorisiert werden.
Das ganz spontane Angebot, beim Dreiländergiro mitzumachen, um meine Nichte zu begleiten, war ein schönes Geschenk, die Runde einmal in einem der bekanntesten Rennradklassiker zu machen. So kam ich zu einem der begehrten Startplätze des schon lange ausgebuchten Rennens. Die Widersprüche, die das auch bedeutet, sind mir bewusst. Wo immer es geht, versuche ich ansonsten immer autofrei zu den Startpunkten von Wettkämpfen zu kommen. Diesmal war es nicht möglich. Es ist ja schon eine merkwürdige Situation mitanzusehen, wenn am Parkplatz bei der Talstation der Bergkastellbahn die Sportler:innen ihre High-Tech-Rennmaschinen aus den Autos nehmen. Meistens sind es deutsche Kennzeichen – aber auch viele Holländer.
Das Wetter passt. Das Durchziehen eines gemeinsamen Projektes passt. Meine Nichte und ich sehen es auch als guten Test für die gemeinsame Parisfahrt in zwei Wochen. Dunkelblau ist noch der Himmel in Nauders, als wir die Startnummern abholen. Es bleibt genügend Zeit für die Vorbereitungen. Ich bin überhaupt nicht nervös. Die „kleine“ Variante über 3000 Höhenmeter und 120 Kilometer stresst mich nicht. Ich habe auch keine Ambitionen, das Ziel in einer bestimmten Zeit zu erreichen. Start ist um 6:30. Wir haben uns im hinteren Startblock aufgestellt. Dort geht auch der erste Teil hinauf sehr dosiert los. Ich fahre kräfteschonend. Der Reschenpass (1450 m) ist schnell erreicht. Bei der Abfahrt geht es wesentlich ruhiger zu als beim Ötztalradmarathon, bei dem doch ein höheres Tempo gefahren wurde. Die Geschwindigkeit der meisten vor mir war dann doch zu langsam und Meter für Meter radle ich mich auf der linken Seite nach vorne. So geht es weiter über Glurns und Prad und Trafoi und ich weiß nicht wie viele Hundert ich dann überholt habe, als die 48 Kehren hinauf aufs Stilfserjoch (2798 m) beginnen. Die Labestationen in Glurns und Trafoi habe ich einfach ausgelassen. Mich ärgern die Rennfahrer, die auf der Strecke die Reste von Riegelverpackungen und dergleichen auf der Straße entsorgen. Immer wieder blicke ich auf das Ortlermassiv vor mir, so dass ich ganz auf das Rennen vergesse. Ich spüre keine Müdigkeit beim Hochradeln, das fast wie das Begehen einer Wendeltreppe ist. Nur kurz gönne ich mir am Joch einen Verschnaufer. Inzwischen ist das Feld schon sehr dünn geworden. Brutal zwängen sich lärmende Motorräder zwischen den Rennradfahrenden durch. Fast allein bin ich bei der Abfahrt hinunter zum Umbrailpass und dann durch das Münstertal. Bei dieser Bergstrecke und umgeben von einer wunderschönen Berglandschaft vergesse ich wieder, dass ich in einem Radrennen bin. Es ist mir ziemlich egal, dass ich immer wieder das blecherne Geräusch von Carbonreifen höre und Fahrer an mir vorbeisausen. Zum Glück gibt es auf der engen Bergstraße kaum Gegenverkehr. Irgendwo in einem Dorf vor Laatsch ist eine Herz-Jesu-Prozession – und ich denke an den heutigen Festtag, den ich ohne traditionelle religiöse Volkskultur verbringe. Von Mals geht es eine steile Nebenstraße hinauf zum Reschensee. Einzelne schieben die Strecke hinauf. Es ist glühend heiß. Kurz vor der letzten Labestation touchiert ein anderer Radler mein Hinterrad und fällt in den Straßengraben. Passiert ist nichts. Die Fahrt am Reschenssee selbst geht entlang von der Radroute. Auf die Zeit hatte ich während der ganzen Fahrt nie geschaut – ansonsten hätte ich wohl auch ein wenig Stress gehabt, unterhalb von 6 Stunden zu bleiben. So war es halt geringfügig darüber. Meine Nichte freut sich sehr, dass sie es in einer super Zeit geschafft hat. Im Zielgelände liegen und stehen die Rennräder herum – unsere sind wohl die einfachsten und kosten einen Bruchteil im Vergleich zu den meisten anderen. Die ganze Veranstaltung gilt als Green Event. Ein ehrenswertes Bemühen. So „grün“ war es dann aber doch nicht. Zumindest gab es wiederverwendbare Trinkbecher und die vielen angebotenen Energy-Drinks in Plastikflaschen verweigerte ich einfach, um es für mich zumindest etwas „green“ zu machen.