Sonntag, 3. Juli 2022
Wieder soll mein Erzählen kein faktenorientierter Bericht über die weltbekannten Orte sein, die wir an diesem Tag besuchen. Mir geht es darum, das subjektive Erleben, das ich damit verbinde, zum literarischen Ausdruck zu bringen, und dadurch die Orte in ihrer Bedeutsamkeit für das heute neu zu entdecken.
Es ist fast so, als hätten sich alle 4 Millionen Menschen aus der Gegend von Neapel an diesem Sonntagmorgen zugleich auf den Weg gemacht, um irgendwo einen Platz am Meer zu finden. Blechwürmer kommen uns auf den engen Straßen der sorrentinischen Halbinsel entgegen, bis die blechernen Würmer dann irgendwo an einer Engstelle überhaupt zum Stillstand gezwungen werden. Nur die Tausenden motorisierten Zweiräder schlängeln sich todesmutig zwischen den stauenden Autos durch. Eine doppelte Sperrlinie gilt für sie nicht. Zum Glück fahren wir in die andere Richtung – nach Pompeji. Dort angekommen: In der sommerlichen Hitze warten Parkplatzwärter auf Kundschaft und auf Reisebusse, die Touristen ausspucken in großer Zahl, warten Souvenierhändler darauf, ihre hässlichen Produkte an gestresste Touristen zu verkaufen, warten Kellner darauf, ausgetrocknete Touristen in ihre Restaurants zu locken.
Die Ausgrabungen von Pompeji sind Weltkulturerbe und für uns als schulische Projektgruppe auf Bildungsreise wohl ein Must-have-done. So haben die Schüler*innen heute vormittags Sonntagsunterricht über eine Stadt, die um 79 nach Christus unter der Vulkanasche verschwand, die ausgegraben und in ihren ursprünglichen Dimensionen als archäologischer Themenpark der Superklasse für das Heute hergerichtet worden ist. Nicola, der Führer der Gruppe, nennt Unmengen an Fakten, ohne aber in die Tiefe zu gehen. Im Amphitheater hätte wohl mit mehr Empathie über die Gladiatorenkämpfe berichtet werden können und darüber, wie eine Kulturvolk zugleich Menschenrechte missachtete und zu unvorstellbaren Grausamkeiten bereit war – ja sich darüber sogar ergötzen konnte. Die Hinweise über das Bordell und die „Dienste“ der Frauen waren auch nicht versehen mit dem Bewusstsein, das wir heute über sexuelle Gewalt haben müssten. Ein erigierter Penis als Stukkatur an einer Straßenecke kann a) als Ausdruck patriarchaler Männergewalt interpretiert werden oder b) einfach als Geschmacklosigkeit einer genital fixierten Gesellschaft. Lieber hätte ich jedenfalls mehr Aufklärung erfahren über die beiden Tempel, an denen wir eigentlich nur vorbeigesaust sind. Was allerdings hängen bleibt – auch als Auftrag für das heute – sind die Hinweise und das Erleben, wie eine Stadt aufgebaut werden kann, in denen es keine Kühlanlagen und Ventilatoren braucht, um sich vor der Hitze zu schützen. Die Baumeister von Pompeji nützten die Winde, die die durch die Straßen wehen konnten. Sie brauchten auch kein großen Maschinen, um große Dinge zu bauen – sie nützten die Kraft der Steine, die zu Bogen geformt wurde, wo ein Stein den anderen stützte. Auch wenn fast zwei Jahrtausende vergangen sind, seit diese Stadt von Vulkanasche begraben wurde und die gesamte Bevölkerung dabei umkam, bleibt in mir das Mitgefühl für die Kinder, für die Männer und Frauen – für all die Menschen, die damals erstickten und von Steinen begraben wurden und deren Leben jäh endete. Die Ausgrabungen von Pompeji sind kein Vergnügungspark für sensationsgeladenen Tourismus. Danach: Mittagspause an einem der hässlichsten Orte am Rande des Weltkulturerbes: bei einem Supermarkt, der der den Charme einer Tiefgarage hat. Allerdings schmecken die Orangen, die ich dort erwerbe, wirklich super und bauen mich wieder auf.
Nun geht es auf den Vesuv. 18 Kilometer Bergmautstraße. Ein Führer begleitet uns. Überraschenderweise ist der Krater, aus dem 79 nach Christus der Vesuv ausgebrochen ist und dessen Asche dann Pompeji unter sich begrub, heute dort, wo die Straße hinaufgeht. Der Bus fährt also in den alten Krater hinein. Die ursprüngliche Form des Vulkans hat sich geändert. Man sieht noch die Reste des Lavaflusses vom letzten großen Ausbruch aus dem Jahr 1944. Vom Parkplatz sind es nur mehr wenige Meter hinauf bis zum heutigen Kraterrand. Unter uns der Golf von Neapel. Die Farben des Vulkangesteins und die Sedimentablagerungen, die Blicke in den Kraterschlund, die bunte Vegetation da oben: es sind neue Sinneseindrücke, die besonders sind. Ich nehme einen kleinen Vulkanstein in die Hand und spüre die groben, spitzigen Ecken und Kanten. Drinnen glitzert es wie von kleinen Glassteinchen. Ich spüre die Hitze, ohne dass sie mich stören würde – nicht allen Schüler*innen geht es so – und berühre mit meinen Fingern die gelben Ginstersträuche mit ihren stacheligen Ästen. Ich spüre Leben, Wachsen und Vergehen.