WildeWasserWeg
In diesen Tagen, einige Tage nach dem Murenunglück, hat der im hintersten Stubaital gelegene WildeWasserWeg in meiner Gedanken- und Gefühlswelt noch einen anderen Widerhall als jenen über die Schönheit und Pracht der Natur. Beim touristisch gut genützten Grawa Wasserfall beginnt unsere zweitägige AV-Hochtour. Die Straße weiter hinein zum Gletscherskigebiet und damit auch die Gletscherlifte sind gesperrt. Eine Tourenänderung wurde notwendig. Von der Grawa Alm geht es über den Ruetzbach. In diesen Mittsommertagen nach den Unwettern und Regenfällen und den Tagen, in den aufgrund der Hitze die Gletscher enorm schmelzen, sind seine Wasser reißend-braun. Entsprechend mächtig und spektakulär ist momentan auch der Grawa Wasserfall und auf einer der unteren Plattformen verweile ich etwas, um die Gischt der herunterstürzenden Wassermassen am Körper zu spüren. Der Tourismus setzt auf Superlative – und daher steht auf einem der Schilder, dass es der „breiteste Wasserfall der Ostalpen“ sei. Von Beginn an wird deutlich, dass wir als Gruppe von sechs Leuten ein passendes Bergteam sind. Mein Rucksack mit Steigeisen, Pickel und Seil fühlt sich schwer an. Der Pfad hinauf bis zum Sulzengg ist mit vielen Holzstegen ausgebaut, die an diesem Tag rutschig sind. Die Brücke, über die ich erst vor kurzem noch gegangen bin, gibt es nicht mehr. Sie wurde bei einem Unwetter weggespült. Eine neue ist inzwischen errichtet. Es geht nun hinein durch den fast ebenen Talboden in Richtung Sulzenaufall, über dem 200 Meter darüber direkt an der Abbruchkante wie ein Adlerhorst die Sulzenauhütte thront. Ich ziehe gedanken- und gefühlsversunken die Serpentinen hinauf. Immer wieder tröpfelt es etwas vom Himmel. Im Westen sind die Berge in Regen- und Nebelwolken verpackt. Daher sind kaum Menschen unterwegs und wir sind während der Apfelstrudelpause auf der Sulzenauhütte (2191 m, rund 2km von der Grawa Alm) fast allein. Hinweisschilder warnen davor, bestimmte Routen zur Müllerhütte oder auf das Zuckerhütl aufgrund von Steinschlag und Toteis nicht mehr zu gehen. Die Berge sind in Bewegung. Permafrost löst sich.
Lübecker Steig
Vorbei geht es an der Blauen Lacke mit den vielen Steinmännchen hinein zur Fernerstube. Der Gletscher sieht heute so anders aus, als noch vor einigen Wochen. Die vielen Gletscherspalten sind offen. Angeseilt kurven wir um sie herum und manchmal mit kleinen Schritten darüber. Wir haben die entsprechende Ausrüstung dabei, die es für diesen Gletscherkontakt braucht, und unsere Tourenführerin wählt geschickt einen Weg um die Spalten. Meine Gefühle schaukeln zwischen der Traurigkeit und Wut einerseits, wenn ich wieder so hautnah miterlebe, wie das Gletschereis unter den Steigeisen dahinschmilzt, und der Freude über die Schönheit dieser Bergwelt andererseits. Es wird jedenfalls nicht mehr lange dauern und auch dieser Gletscherteil wird verschwunden sein. Bei der Lübecker Scharte (3144 m) beginnt die Gratkletterei im festen Granit und dann wieder aber auch stellenweise im losen Geröll hinauf zum Wilden Freiger. Da wir an diesem Tag nur wenig Abstieg haben und auch die Regenwolken vom Wind abgehalten werden – er fühlt sich sehr kalt an heute, besteht keine Eile. Die schwierigen Stellen sind mit Stahlseil versichert, die Markierungspunkte gut sichtbar, nach fast 10 Kilometer stehen wir auf dem Freiger Gipfel (3418 m) mit der grandiosen Rundsicht. Wilder Pfaff und Zuckerhütl und der Übeltalferner mit der Müllerhütte im Westen, tief unten im Osten Ridnaun und unser Tagesziel, das Becherhaus, thront unweit vor uns im Süden auf der Spitze vom Bechergipfel.
Becherhaus
Mein Leben und auch das Bergsteigen hat sich im letzten Jahr sehr verändert. War ich es früher gewohnt, immer wieder allein unterwegs zu sein, möglichst rasch auch wieder daheim, Gipfel rauf und runter an einem Tag, so bin ich inzwischen dankbar für das Gehen in der Gruppe, die Gemeinschaft schenkt, und den Luxus, in einer Hütte zu übernachten. Diese „Hütte“ – es ziemt sich wohl besser es als „Haus“ zu bezeichnen oder die Eigendefinition „Wolkenschloss“ zu wählen – liegt auf 3195 m und ist damit die höchste Schutzhütte Südtirols. Da gibt es sogar eine repräsentative Kapelle, die an die Geschichte erinnert. Kaiserin Elisabeth-Schutzhaus hieß das Becherhaus zu Beginn seiner Entstehung. Im vorderen rechten Eck der Kapelle wird an die Majestäten aus der Habsburger Zeit erinnert. Ein Porträt zeigt den „Seligen“ Karl von Habsburg. Über die Fragwürdigkeit dieser Beatifikation schrieb ich vor nun schon fast 20 Jahren einen Artikel. Der Monarch hat als Oberbefehlshaber letztlich selbst den Einsatz von Giftgas am Ende des Ersten Weltkrieges gerechtfertigt und war nicht bereit war, auf den Thron zu verzichten, als Österreich aus dem Schrecken des großen Krieges erwachte und die Erste Republik gegründet wurde. Selig??? Zum Glück finden wohl nur wenige Bergsteiger den Weg in die Kapelle, sonst könnten religionskritische Menschen sich in ihrer Kirchenkritik bestätigt fühlen. Hier oben in der Kapelle auf weit über 3000 m rutschen angesichts der anachronistischen Habsburgerecke meine Gedanken in die Kriegsgebiete der Ukraine, wo sich die gleiche verheerende Logik wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den gleichen Ländern wiederholt. Auf einem anderen Porträt blickt mich Kaiserin Sisi an. Ihr Mann war es, an dessen Geburtstag das Becherhaus alias Kaiser Elisabeth-Schutzhaus eingeweiht wurde, der einige Jahre später mit der Kriegserklärung die erste große Schreckenszeit des 20. Jahrhunderts auslöste. Nein, Habsburger-Nostalgie kommt bei mir keine auf. Lieber schaue ich mir das Mariabildnis Maria Schnee an, das im Zentrum der Kapelle ist, flankiert von einer Statue der Hl. Barbara und der Hl. Katharina – also eine Art Trifeminat, was mich als Theologe schon wieder etwas mit der Kapelle versöhnen kann. Einen Stock darüber hört man die Wirtsleute das Abendessen vorbereiten. Ich beame mich in die Gegenwart zurück.
Vor dem Abendessen sitze ich noch allein auf der Terrasse im kalten Wind, lasse meine Gedanken und mehr noch Gefühle frei fliegen, blicke hinüber zur Müllerhütte, mit der ich eine wichtige Geschichte verbinde, hinunter zum Übeltalferner – er sieht mit den vielen Spalten so anders aus als noch vor einigen Wochen, als wir im knietiefen Sumpfschnee eine Spur zogen – und gegenüber zur Sonnklarspitze, die mich zuletzt im Aufstieg sehr gefordert hatte, als wir die Überschreitung hinunter nach Sölden machten.
Signalkopf – Seescharte – Gamsspitzel – Grünausee
Der Gipfel des Wilden Freiger liegt in Nebelwolken. Über den Südgrat geht es zunächst wieder hinauf zum Signalkopf. Die Felsen und Steine sind mit Eis überzogen. Es heißt, vorsichtig die Schritte zu wählen. Die schwierigen Passagen sind mit Trittbügeln und Eisenklammern abgesichert. Ein kurzes Firnfeld lässt sich gut gehen. Beim Abstieg lockt es mich, noch den Abstecher hinauf um Gamsspitzel (3051 m) zu machen. Dort oben ist anstelle der üblichen Gipfelkreuze ein verwitterter Holzpfahl, in dessen oberes Ende die Figur des auferstandenen Christus geschnitzt ist. Bunte tibetische Gebetsfahnen sind um das Holz gewickelt. Wo der Wille und das religiöse Grundverständnis dafür da sind, verschmelzen hier auf einem der 3000er zwei Weltreligionen. Der Abstieg hinunter zur Seescharte ist kurzweilig. Die Gebirgswelt rund um den Wilden Freiger ist vielfältig. Besonders eindrucksvoll liegt der Grünausee. Die Sonne kommt etwas raus. Es tut gut, für ein paar Minuten im kalten Wasser des ehemaligen Gletschersees zu schwimmen. Die Gletscherabbrüche des Sulzenauferners sind beeindruckend. Ich liege im Wasser und schaue noch einmal hinauf zum Gipfel des Gamsspitzls und hinüber zum Wilden Freiger. Leben spüren. Auf der Sulzenauhütte herrscht an diesem Sommersonntag Hochbetrieb. Ich spüre Dankbarkeit für zwei Tage im Hochgebirge, für Gemeinschaft und Bergerlebnis und dass auch alles gut gegangen ist – keine Selbstverständlichkeit bei Tausenden von Tritten.