Die unmittelbare Zeit nach Mariä Himmelfahrt lässt das Ende des Sommers spüren. Erst um 6.00 ist es hell genug, um ohne Licht mit dem Rennrad aufzubrechen. Die Kastanienbäume entlang der Innpromenade sind bräunlich gefärbt und der gestrige Regen hat die ersten noch nicht reifen grünen Kastanien und welke Blätter auf den Radweg gespült. Zu spüren, dass der Sommer enden wird, ist existentiell-metaphorisch betrachtet keine aufmunternde Sache für eine Seele, die sich nach Frühling und dem Reifwerden von Träumen sehnt. Regengesättigte Wolken hängen am Himmel, doch im Osten schimmert golden die aufgehende Sonne durch. Ich habe Zeit für eine besondere Runde, die ich jedes Jahr ein oder zwei Mal fahre. Sie gehört zu meinen Klassikern, wenn ich mir einmal etwas Längeres gönne. Das Wetter spielt mit. Die Grünstreifen entlang des Inns haben ihr Spätsommerkleid. Ich denke über eine WhatsApp-Nachricht, die mich sehr beschäftigt. Die Äste der Vogelbeeren sind gebogen von der Fülle an roten Früchten. Ich denke an das TV-Sommergespräch mit dem grünen Vizekanzler, das ich beim frühen Frühstück nachhörte. Weit weg von den Anliegen der Friedensbewegung war die Antwort von Werner Kogler zum Ukraine-Krieg. So unnötig war seine Distanzierung vom Pazifismus und seine Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Stolz stehen die Königskerzen, die an den gestrige Kräuterweihen erinnern. Gerade gestern habe ich ihre aufrechte Gestalt in einem Gedicht beschrieben. Ich spüre die Dankbarkeit über das große Fest, das wir gestern feierten. An manchen Stellen wuchert das Drüsige Springkraut. Deren rosafarbenen oder purpurroten Blüten verbreiten einen unangenehm süßlichen Duft. Auf der Inntalautobahn ist Massenverkehr. „Pro Minute sechs Lkw …“, stand gestern in der Zeitung. Gefühlt sind es noch mehr. Bis zum Startpunkt der Höhenstraße in Ried im Zillertal sind es 55 Kilometer – Zeit für viele Gedanken und Gefühle im allein-einsamen Rennradfahrer. Die erste Auffahrt der Zillertaler Höhenstraße ist meine liebste. Ich fülle an einem Brunnen mit einer Leonhard-Statue die Trinkflasche auf. Eine Frau führt liebevoll eine Frau mit geistiger Beeinträchtigung zu diesem Brunnen, um ihr die kleinen Fische zu zeigen, die da im Trog schwimmen. In solchen Begegnungen spüre ich immer, was im Leben wirklich zählt und es relativiert mein sportliches Unterwegssein. Zu früher Morgenstunde gibt es auf der engen Bergstraße fast keinen Verkehr. Auch ich bin noch frisch. Weil meine hintere Scheibe doch zu wenig Zacken hat, fahre ich meist im Wiegetritt. Eine bessere Bergübersetzung würde nicht schaden. Meine Gedanken sind immer wieder bei früheren Fahrten, vor allem mit meinem Sohn. Ich fahre an den Orten vorbei, wo ich wegen eines Fotos einmal abstieg. Damals fotografierte ich zwei Bächlein, die zu einem wurden. Im großen Meer der Sehnsucht ist das eine Wasser wohl längst angekommen. Der Höhepunkt – im wortwörtlichen und übertragenen Sinne – der Tour beginnt dann immer oberhalb der Waldgrenze. Einige der weißen Wolken sind nun unterhalb. Die ersten 1500 Höhenmeter sind geschafft. Es riecht nach Almen. Die Vegetation ist entsprechend. Fliegen fühlen sich vom Salz auf meinen Armen mehr angezogen als von den Kuhfladen am Straßenrand. Der Himmel ist tiefblau und unendlich. Der Regen hat den Weiden gutgetan. Die Liftstationen bei der Kaltenbacher Skihütte übersehe ich lieber. Es geht dann nochmals rund 300 Höhenmeter hinunter und dann wieder hinauf zum Melkboden auf 2000 Meter. Ich mag auch diese Anfahrt, weil die mächtigen Dreitausender der Zillertaler Alpen ein prächtiges Panorama bieten, beginnend vom Olperer über Riffler, Möseler und Hochfeiler, Zsigmondyspitze und zahlreichen weiteren Gipfeln, deren Namen ich nicht kenne. Bergsteiger können hier jedenfalls aus dem Vollen schöpfen. Schnell geht die Abfahrt hinunter nach Hippach und dann entlang der Dörfer mit Gegenwind hinaus ins Inntal, wo aber schon der Rückenwind wartet, um mich zum Ausgangspunkt zurück zu schieben. Mein Garmin hat 158 Kilometer und 2315 Höhenmeter gemessen.