Blicken wir auf die Positionierungen zur schrecklichen Kriegssituation in der Ukraine aus der Perspektive der Kirchen und der christlichen Welt, dann könnte ein Urteil kaum widersprüchlicher sein.
Wir haben auf der einen Seite die russisch-orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen Kyrill an der Spitze, der als enger Putin-Freund agiert und in den letzten Monaten wie ein Brandbeschleuniger wirkte. Anstatt seine Macht zu nützen, um auf der Basis der gewaltfreien Botschaft des Evangeliums gegen die Kriegspolitik des russischen Regimes zu handeln, unterstützt er mit martialischen Worten begleitet von einem skurrilen Auftreten die Invasion Russlands in der Ukraine. Soldaten der russischen Armee, die auf den Namen Jesu Christi getauft sind, müssten in diesem Namen aus den Panzern steigen und die Maschinengewehre weglegen. So einfach wäre die christliche Logik, so schwierig und gefährlich wäre sie zugleich. Der russische Staatschef Putin, der sich gerne in der Pose als gläubiger Christ und als Wächter der Orthodoxie gibt, wäre genauso von unten entmachtet wie Patriarch Kyrill, würde eine massive Verweigerung von unten her – ganz im Stile von Gandhi – durchgeführt werden. Mir ist bewusst, welche Sanktionen es auf Kriegsdienstverweigerung in Russland gibt und welchen Mut und Leidensbereitschaft es unter den aktuellen Bedingungen bräuchte.
Die meisten Gläubigen in der Ukraine, die zugleich in den Abwehrkrieg verwickelt sind, gehören der ukrainisch-orthodoxen Kirche an. Die Haltung dieser Kirche von den Bischöfen und Priestern bis hinunter zu den Gläubigen ist auf der Linie des militärischen Verteidigungskrieges, den der ukrainische Präsident Selenskyj vorgibt. Der Bruderkrieg ist auch ein religiöser Bruderkrieg geworden. Orthodoxe gegen Orthodoxe. Gläubige gegen Gläubige. Man kämpft und tötet mit dem Segen der Kirchenverantwortlichen.
Man könnte vermuten, dass zumindest die in Polen so mächtige katholische Kirche auf die militärische Karte setzen würde, um die russische Invasion zu stoppen und die von Russland besetzten Gebiete in der Ukraine wieder zurück zu erobern. Polen gilt innerhalb der EU und der NATO als jenes Land, das sich aufgrund der gemeinsamen Geschichte mit der Ukraine und der eigenen leidvollen Erfahrungen aus der Zeit der Sowjetunion sofort auch für eine militärische Unterstützung der ukrainischen Armee stark gemacht hat. Umso bemerkenswerter ist die Haltung des polnischen Episkopats, die sich von der Politik der polnischen Regierung unterscheidet: „Unsere Aufgabe ist es nicht, Waffen zu liefern, sondern Werkzeuge des Friedens, das, was für den täglichen Lebensunterhalt der Menschen notwendig ist und Hoffnung gibt“, sagte am ersten Tag der russischen Invasion Erzbischof Stanislaw Gadecki, Vorsitzender der polnischen Bischofskonferenz.
Papst Franziskus hat im Westen viel Kritik auf sich gezogen, weil er auch die Mitschuld der NATO an den kriegerischen Entwicklungen in der Ukraine benannt hat. Damit hat sich der Papst stets als möglicher Vermittler gesehen und zugleich eine pazifistische Position durchgehalten, ohne es aber zu versäumen, die Aggression Russlands zu verurteilen. Er hat sich von Beginn der russischen Invasion an wiederholte Male unmissverständlich für nicht-militärische und diplomatische Lösungen ausgesprochen. Dass ein paar Wochen nach der Invasion, als die Stadt Charkiw massiv unter Beschuss genommen worden ist, der Papst die Ukraine und zugleich Russland (!) unter den Schutz der Weihe der Unbefleckten Mutter Gottes stellte, mag für Kirchenferne merkwürdig klingen, doch liegt darin die so wesentliche römisch-katholische Zielrichtung: Nicht Waffen sollen dominieren, sondern Gebet, wobei Gebet immer die Bereitschaft zum Dialog und zur Versöhnung inkludiert. Wer betet, schießt nicht, wer betet, öffnet sich dem Geist des Friedens und der Versöhnung, aus dem dann ein friedliches Handeln folgt. Weder Papst Franziskus noch die Bischöfe aus verschiedenen Ländern haben die Lehre vom Gerechten Krieg aufgegriffen, um damit die militärischen Optionen des ukrainischen Staates zu legitimieren, obwohl sich mit den entsprechenden Kriterien auch widersprüchlich argumentieren ließe. „Es gibt keinen gerechten Krieg“, formulierte das katholische Oberhaupt unmissverständlich mit Blick auf die Lage in der Ukraine.
Ein halbes Jahr nach der Invasion sehen wir mit Schrecken das Gegenteil: Die militärische Eskalationsschraube ist durch Waffenlieferungen gestiegen. Nicht Diplomatie bestimmt das Weltgeschehen, sondern die Herrschenden wollen eine Entscheidung auf den Schlachtfeldern. Selbst die grünen Parteien, die in Deutschland und Österreich mitregieren, haben ihre pazifistischen Grundwerte aufgegeben und machten sich zu Befürwortern von Waffenlieferungen. So anders klingen da die Stimmen aus dem Bereich der katholischen Welt.
„Krieg ist nie eine Antwort!“ lautete auch unwidersprochen der Grundkonsens von Pax Christi seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Einen Monat nach der völkerrechtswidrigen Invasion schrieb die Präsidentin von Pax Christi International, Marie Dennis: „Deeskalation, Diplomatie und Peace-building sind der einzige Ausweg, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.“ Die pazifistischen Optionen klingen so anders als die herrschende Wirklichkeit. Gerade angesichts der kriegerischen Wirklichkeit brauche es nicht noch mehr Aufrüstung, sondern ein gewaltfreies Paradigma, das auf nicht-militärischen Grundhaltungen und Entscheidungen beruht. Öfters wurde in Resolutionen und Stellungnahmen die pazifistische Zielrichtung vorgegeben: Friedensabkommen mit den Komponenten Waffenstillstand, Neutralität der Ukraine, laufende Verhandlungen über die Krim und den Donbas sowie multilaterale Verhandlungen innerhalb der OSZE und zwischen Russland und der NATO über regionale Sicherheitsvereinbarungen. Die USA, die Europäische Union, die Türkei, China und andere Länder sollten beiden Seiten helfen, sich in einem ausgehandelten Friedensabkommen sicher zu fühlen.
Klaus Heidegger, 6. 9. 2022