Durch das Ötztal
Mein Start ist in Ötztal Bahnhof. Das geplante Ziel, die Gletscherstraße auf den Rettenbach- bzw. Tiefenbachferner mit dem höchsten Punkt auf 2830 m, hatte ich bislang immer vermieden, auch wenn es eine klassische sportliche Herausforderung für Rennradfahrende darstellt. Das Skispektakel oberhalb von Sölden ist nicht meine Welt. Der Verkehr auf der Ötztalstraße ist im Sommer unerträglich. Die Hotspots des Tourismus meide ich, wenn es geht, weil sie meiner Seele nicht gut tun. Die Vermutung, dass so ganz außerhalb der Saison und mitten in einer Woche weniger Verkehr ist, war falsch. Schon bei der kurzen Fahrt bis Ötz habe ich das Gefühl, als wäre die halbe Bevölkerung des Tales zugleich talaus- oder talein unterwegs und als gäbe es Hunderte Großbaustellen ebendort. Daher weiche ich, wo immer es geht, auf den Radweg aus, der von Ötz bis nach Sölden angelegt ist, allerdings mit dem Rennrad nicht immer gut befahrbar ist. Ich fahre ohne Eile, lasse mich auf das herbstliche Farbenspiel des Morgens ein und meditiere, während ich fahre und bleibe an manchen Stellen stehen, um einen Blick länger zu genießen oder eine versteckte Kapelle zu fotografieren. Über den Ortschaften liegt gräulicher Nebel von den Heizungsanlagen und es riecht nach den Abgasen von Holzöfen. Abseits der lärmenden Bundesstraße gibt es noch verstreut alte Bauernhöfe. Die Felder entlang des Radweges riechen nach der letzten Mahd des Jahres. Andernorts fressen Kühe nun das Talgras. Erst vor kurzem wurden sie von den Almen geholt. Sie glotzen den einsamen Radfahrer verwundert an. Während ich durch die Orte fahre, kommen mir gefühlsgetränkte Gedanken in den Sinn von erlebten Berg- und Skitouren aber auch von Bildungsaktivitäten, die mich biographisch mit den einzelnen Orten verbinden. Ein Seminar für die Katholische Jugend, das ich mehrere Tage in Köfels gestaltete; ein Eis mit Kirschengeschmack nach einem Klettersteig in Umhausen; die Halbmarathons, die ich in Längenfeld lief; der kühne Renhard-Schiestl-Klettersteig … und dann sind es Gedanken an die Fahrten hinaus durchs Ötztal, wenn ich vom Timmelsjoch kam oder zuletzt im Pulk beim Ötztal-Radmarathon. Radfahren weckt eben immer wieder Geschichten aus meinem Leben in mir wach. Der Radweg über die Ötztalstufen ist aufwändig gemacht mit Serpentinen und eigenen stolzen Radwegbrücken. So ganz mühelos ist Sölden da. 40 Kilometer sind hinter mir. Alles scheint in diesem eigenartigen Ort käuflich und vermarktbar zu sein. Am Dorfeingang der Tourismusmetropole locken grelle Schilder mit „GIRLS & MORE“, dann kommen die Hotels, Restaurants, Geschäfte und Bars und riesige Parkgaragen und am Ende des Dorfes noch einmal Reklametafeln für ein bestimmtes Gewerbe. Weibliche Körper werden als käufliche Ware angeboten – so wie die Natur einem Raubkapitalismus geopfert wird. Die Pfarrkirche duckt sich an den Abhang, als wollte sie nicht diesem Treiben ihren Segen geben.
Gletscherstraße
14 Kilometer sind nicht viel für eine Rennradstrecke. Allerdings sind sie ganz besonders. Die Steigung beträgt fast durchgehend 13 Prozent. Zum Glück fahren an diesem Tag in der Nachnach- oder Vorvor-Saison kaum Autos oder Motorräder. Nur manchmal kommen mir die kleinen Mannschaftsbusse von irgendeiner Trainingsgruppe entgegen. Eine Ziegenherde kann gemütlich die Straße benützen und selbst die Raupen werden es schaffen, über die Straße zu kriechen, ohne überfahren zu werden. Der Himmel ist herbstlich-stahlblau. Die Almböden sind rötlich-braun gefärbt. Durch das Rettenbachtal windet sich eine künstlich angelegte Piste, auf der gerade Skikanonen in Stellung gebracht werden. „In Stellung bringen“ – eine Formulierung, die passt. Es ist ein CO-2 intensiver Kampf, der gegen das Klima geführt wird. Am Ende des Tales sehe ich schon von weitem die plattgewalzten Pisten über den Gletscherflächen. Ich flüchte mich gleich über die Parkflächen bei der Rettenbachferner-Arena zum Tunnel, der auf die andere Seite zum Tiefenbachferner führt. Auch hier wieder ein Superlativ: der höchste Straßentunnel der Welt. Den Tunnelausgang habe ich als kleines, helles Licht vor Augen. Zum Glück fahren gerade keine Autos und Motorräder. Nach dem fast 2 Kilometer langen Tunnel ist jene Stelle, der als „höchster mit dem Rennrad erreichbarer Punkt der Alpen“ gilt. Das Gefühl, mich in der Bergwelt wohl zu fühlen, bleibt heute völlig aus.
Gletscherschock
Die Superlative des höchsten Punktes wird erschlagen von dem, was ich hier oben sehe. Jetzt weiß ich, warum ich bislang nie da hinaufgefahren bin. Hinter dem Tunnel ist am Rande des Tiefenbachferners eine Großbaustelle. Riesige Parkflächen wurden vor die Liftanlagen auf 2800 m planiert, von denen die Liftstützen bis weit auf die Dreitausender hinaufgehen. Dort oben ist auch das Wahnsinnsprojekt der Zusammenschließung mit dem Pitztaler Skigebiet geplant – oder doch schon vom Tisch der Gletscherkaiser genommen, die in dieser Gegend regieren? „Es ist längst genug! Zu viel von hochalpiner Landschaft wurde bereits zerstört“, schreit es in mir, während ich die tonnenschweren Ratracs höre, die den frischen Schnee der vergangenen Tage zusammenschieben und wälzen. Kurz bleibe ich dann doch noch auf der anderen Seite beim Rettenbachferner stehen. Ich habe mehr das Gefühl, in einem Industriegelände als in hochalpiner Landschaft zu sein. Die blau gefärbte Gletscherzunge sehe ich hinter einem überdachten Förderband, auf dem sich Skifahrer zum Lift befördern lassen wie Gepäcksstücke in der Halle eines Flughafens. Nur spärlich bedeckt mit Neuschnee sind die Felsen am absterbenden Eisbruch. Die neu entstandenen Gletscherseen sind Zeugen der Gletscherschmelze. Statt Rettenbachgletscher heißt es nun wohl Rettenbachsee. Die riesigen Parkflächen auf mehrere Ebenen wirken wie ein surrealer Alptraum. Tatsächlich haben die Söldener Gletscher keine anderen Zubringeranlagen im Herbst als eine Fahrt über die Gletscherstraße. Um überhaupt in dieser Gegend ein Skifahren zu ermöglichen, muss eben gebaggert werden, was das Zeug hält. Die Natur wird bestimmten menschlichen Bedürfnissen angepasst – nicht der Mensch passt sich an die Natur an. Die Geschichte dieses Skigebietes erzählt von all den Absurditäten: Beheizbare Sattelstütze, die in den Gletscher gebaut wurde – und dann doch nie benützt wurde; Liftstützen auf Gletscherflächen, die mit dem Eis sich bewegen und ständig erneuert werden müssen; Tonnen von Schutt, der auf Eisresten liegt. Ein Sommerskilauf ist auf den Gletscherresten ohnehin nicht mehr möglich. Ein Sattelschlepper quält sich die steile Bergstraße hinauf. Es wird kräftig an den Bühnenanlagen gebaut. In gut zwei Wochen ist Weltcupauftakt. Spiele in Zeiten von Klima- und Energiekrise. Seit 30 Jahren findet das Weltcup „Opening“ am Rettenbachferner statt. Das Ökologie-Thema wird verdrängt, auch wenn selbst bekannte Rennläufer auf einen späteren Start drängen. Am Rande stehen die Schneekanonen, mit denen in Zeiten der Erderhitzung die Gletscherskigebiete beschneit werden. Ich lehne mein Rennrad an eine abgestellte Baggerschaufel, höre das Dröhnen von Motoren. „Snow-Farming“-Realität. Der ökologische Fußabdruck für diese Art des Tourismus ist gigantisch. Ein tonnenschwerer Ratrac bereitet den Weltcuphang vor. Wie muss es erst zugehen, wenn dann Tausende Skifahrer hier oben sind und die Parkplätze voll mit Autos sind? Schnell sause ich hinunter, ich habe mehr als genug Wunden gesehen, verlasse das Gebiet, das die Söldner Tourismusindustrie als „bike republic“ ausgerufen hat – und nehme den schnellsten Weg zurück durch das Ötztal zu meinem Ausgangspunkt. 2820 Höhenmeter und 110 Kilometer, gefüllt mit Gedanken und Gefühlen und dem Wissen: meine Wunschheimat sieht anders aus. Sie ist dort, wo Menschen im Einklang mit der Natur leben und nicht gegen sie!
5. Oktober 2022