Der Alpenverein Hall setzt ein bewusstes Zeichen in der Tourenplanung mancher Routen. An- und Abreise werden mit Öffentlichen Verkehrsmitteln organisiert. Klimaticket-Besitzende sind da im Vorteil. Diesmal ging es direkt vom Bahnhof Imst weg. Die Tourenführerin hat sich die Route umsichtig überlegt. Ich kenne das Gebiet, obwohl Ursprungsheimat, eigentlich nur von meinen Rennradrouten über den Piller und rundherum und „der Venet“ war stets der Blickfang, wenn ich von meinem Ursprungsort Richtung Nordosten schaute. Heute wird einmal mehr erfahrbar, dass der Venet nicht einfach ein Berg ist, sondern ein eigenartiges Massiv aus Phyllitgestein mit einigen Gipfeln, die aber alle nicht jene zackig-steile Felsstruktur des Kaunergrats haben. Dafür sind unterhalb der von längst vergangenen Eiszeitgletschern abgeschliffenen Gipfel zwischen dem gekrümmten Inntal und dem Pillertal jede Menge Almen. Unsere Route führt vom Bahnhof Imst weg entlang von kleinen Steigen und auf Wald- und Wiesenwegen, vorbei an einigen Berghöfen und einer alten Kapelle Richtung Plattenrain oberhalb von Arzl am Fuße des Venets. Plattenrain trägt den Titel „Kanzel des Tiroler Oberlandes“. Eine moderne Kapelle steht über dem luxuriösen Apart-Hotel. Der Grundriss der Kapelle hat eine Ellipsenform, in dessen Mitte eine kleine Quelle entspringt und ihr Wasser in einem mit Steinen gebildeten Lauf in den unteren Teil des Sakralraumes entlässt. Die Spitze des Daches, der als Kegel gestaltet ist, bildet ein Glaskörper, der das Licht von oben einfängt und nach unten hinein schenkt. Besonders aber gibt ein Kunstwerk am Eingang Gelegenheit, über menschliches Sein nachzudenken. Ein Torso eines Mannes hängt an der Betonwand. Der Blick wird besonders auf die Art und Weise gelenkt, wie der Künstler den Schambereich mit einer aufklappbaren Metallkonstruktion bedeckt hat. Das Kunstwerk könnte auf Jesus verweisen, der in seiner tiefsten Verwundung „seiner Kleider beraubt wurde“. Der Torso versinnbildlicht mir heute, wie verletzbar menschliches Sein ist – vor allem auch in seiner Intimität, wie immer unvollkommen menschliches Sein bleibt, das seine Vollkommenheit aber in Begegnungen mit dem Göttlichen erreichen kann. Daher passt es, dass dieses Kunstwerk am Eingang und zugleich am Ausgang eines Sakralraumes angebracht ist. Auf dem weiteren Wandern am Kamm zwischen Inntal und Pitztal entlang zur Hochasteralm und zum Gipfeljoch mit dem großen Kreuz bleibe ich noch in meinem existenzphilosophischen Meditieren. In der Feuchtigkeit riechen die frischen Triebe der Föhren und die Bergwiesen mit den kräftig-bunten Frühlingsblumen ganz besonders. Mächtig ragt der Tschirgant als Dreieckspyramide zwischen Inntal und Gurgltal oberhalb von Imst empor. Der Blick vom Imsterbergerjöchl geht in die Täler hinunter – ins Inntal, ins Gurgltal und hinein ins Pitztal, wo Wolkenmassen den Blick auf die Wildspitze verdecken, hinüber zu den schroffen Lechtaler Alpen mit dem Starkenberger Tal und der wilden Larsennschlucht bei Mils. Am Horizontalbalken des Gipfelkreuzes sind Buchstaben wie Fahnen angebracht mit der Botschaft: „ICH BIN MIT DIR UND BEHÜTE DICH WOHIN DU AUCH GEHEN WIRST.“ Es ist, als wehte diese Botschaft im Wind zwischen Himmel und Erde – und wie sehr wünsche ich mir, dass solche Botschaft in menschlichen Beziehungen stets begreifbar wäre und nicht auf einen jenseitigen-fernen transzendenten Gott projiziert würde. Vom Imsterbergjöchl könnte man nun weitergehen über das Kreuzjoch zur Glanderspitze bis zum Krahberg. Der Plan ist in mir entstanden für eine künftige Bergtour. Im Süden türmen sich inzwischen wie in einem Van-Gogh-Gemälde Regenwolken auf. Unser Weg führt zurück über die Larcheralm – mit Einkehrpause – nach Wenns über Almwege und Wiesensteige, vorbei an Kühen und vor allem vielen Kälbern, einer Herde von Haflingern, die sich über die menschliche Abwechslung freuen. Die Wahl öffentlicher Verkehrsmittel trägt zur Entschleunigung bei. In Wenns beim Warten auf den Linienbus ist noch Zeit, um das berühmte Platzhaus zu sehen, dessen Renaissancemauern mit Fresken bemalt sind, und für einen Besuch in der Kirche an einem Sonntag, an dem Gott als Beziehungsgöttlichkeit gefeiert wird. Was ich in der heutigen Tiroler Tageszeitung schreiben konnte, wird bei solchen gemeinsamen Unternehmungen jedenfalls evident. In achtsamen Gemeinschaftserfahrungen können göttliche Seinsweisen erfahrbar werden.
k.heidegger, Dreifaltigkeitssonntag, 4. Juni 2023