In meinem Kopf und meinem Herzen sind heute beim Steigen auf den Berg und beim Reden mit meinem Literatenfreund Worte und Verse jener Frau, deren physisches Leben vor 50 Jahren endete. Während wir in der kontrastreichen und farbintensiven Herbstlandschaft von der Leutasch über die Wettersteinhütte und die Wandlalm und mit Blick auf die imposanten Felswände der Scharnitzspitze und der Leutascher Dreitorspitze unserem Gipfelziel näherkommen, reden wir über Ingeborg Bachmann. Besonders in den letzten Jahren sind mir ihre Gedichte wichtig geworden, weil sie mir helfen, auch mein eigenes Leben darin wiederzufinden. Und besonders jetzt – mit Blick auf die weltpolitischen Ereignisse, dem Morden in den Kriegen, dem Sterben in der Natur und dem Aufkommen rechtsradikaler Stimmungen – empfinde ich dieses Bachmann’sche Menetekel „es kommen härtere Tage“. Aber auch auf anderen Ebenen kann ich die Symbolik und die Imperative in ihrem Gedicht „die gestundete Zeit“ in vieler Weise nachempfinden, habe meinen Schuh‘ geschnürt, die Fische ins Meer geworfen, die Hunde zurückgejagt und die Lupinen gelöscht. „Erklär mir, Liebe …“, so ein anderes Gedicht von ihr. Mir ist, als begegneten mir heute die Naturmetaphern aus ihren Gedichten. Wie Sternblumen sind die Silberdisteln entlang des Steiges, der sich relativ exponiert am Grat zur Gehrenspitze hinaufwindet. Wie das Zittergras sind die braungefärbten Grashalme, zwischen denen sich weiter oben noch Schneereste vom jüngsten Schneefall halten. Und die eigene Stimmung selbst liegt in dieser Ambivalenz von „du lachst und weinst“. „Erklär mir, Liebe!“
Beim Abstieg vorbei an der kleinen Erinnerungshütte, die am Grat liegt auf dem Joch, in dem es südwestlich zurück zur Wangalm und nordöstlich hinunter nach Leutasch geht, bestaune ich nochmals die kalkweißen Südwände der Kletterberge. „Erklär mir, Liebe!“ Und ich bin gedanklich und gefühlsmäßig beim Sonnengedicht von Bachmann und weiß, dass ein grüner Stein am Weg und dann wieder ein roter, zwischen all den weißen Wettersteinkalksteinen, nur deswegen seine Farbe mir schenkt, weil er von den hellen Sonnenstrahlen ins Licht gesetzt wird. Und doch ist es zugleich auch, dass die Farbe schon in in all den Steinen steckt. Am Wegrand hinunter zum Ausgangspunkt ist ein Herz gebildet aus den kleinen Kalksteinen mit einem großen roten Stein in der Mitte. „Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!“, denk‘ ich mir dabei und denk‘ an einen Vers von Bachmann und denke daran, dass selbst Versteinertes weich werden kann – im Privaten wie im Politischen, ohne dass der Stein seine Stärke verliert. Zwei Steine stecke ich mir in die Tasche und schäme mich auch nicht für die Tränen, die ein föhniger Wind rasch trocknet, und das Pathos, in dem die Hoffnung ihre Heimat hat.