Mödling müsste mir vertraut sein. Die kleine Stadt ist nur einen Steinwurf – besser gesagt mit dem Regionalexpress von Meidling nur zwei Stationen – von Wien entfernt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Mödling als 24. Bezirk sogar Teil von Wien. Und Wien wiederum war über viele Jahre die Stadt meines Lebens. Die viele Arbeit im Dienst der Kirche damals führte mich aber nie bis hierher. Mödling war mir zuvor schon als Schüler eines Steyler Missionsgymnasiums vertraut und ich besuchte das Missionshaus St. Gabriel ein paar Mal und meine Lehrer waren mit Mödling verbunden und später weilte ich auch mit einer Schulklasse in diesem großen Kloster außerhalb von Mödling. So bin ich mit Mödling doch biographisch verbunden. Die Stadt selbst fällt mir heute zu, wartend auf einen Termin. Eine Wartezeit wiederum schenkt Offenheit für ungeplant Neues, für bewusstes Erleben von Räumen, für das Wahrnehmen von Augenblicken und die Seele kommt zur Ruhe und öffnet die Sinne für Neues.
Ohne Erwartung und ohne bestimmtes Ziel lasse ich mich vom Bahnhof wegtreiben, vermutend, wo es ins Zentrum gehen könnte. Viele Dutzend Schülerinnen und Schüler kommen mir entgegen. Es ist Mittagszeit. Jetzt im tiefen Novemberherbst scheint mittags schon abends zu sein. Die Sonne schafft es kaum über die meist einstöckigen Häuser darüber zu kommen. Die Straße zieht mich hinein zur Altstadt. Groß ist sie nicht. Groß sind auch die Häuser nicht. Sie bilden aber ein wunderschönes Panorama. Ein Platz mit dem malerischen Rathaus. Kaffees. Fast alle Geschäfte sind klein. Weltladen, Gea, ein Lebkuchengeschäft, ein Wollgeschäft, kleine Bäckereien. Die Wirtschaft tickt hier anders als in der nahen Shopping City Süd. Die Eingangstüren zu den Höfen und Türen von so manchem Haus sind besonders schön gestaltet. Die große Kirche auf dem Hügel am Rande der Stadt zieht mich an. Davor steht ein runder Karner in romanischem Stil aus dem 13. Jahrhundert. Eindrucksvoll ist der Eingang, mächtig sind die alten Mauern. Mächtig ist auch die gotische Hauptkirche von St. Othmar daneben. Davor ist eine Tafel, die mir wieder das Grauen von gestern und heute – und es wäre, als wäre das Gestern im Heute und ein Heute im Gestern zu finden. Im Jahr 1683 soll die Bevölkerung von Mödling in dieser Kirche Schutz vor den angreifenden türkischen Gruppen gesucht haben. „Die ganze Bevölkerung des Marktes wurde niedergemetzelt“ – so steht es auf der Steintafel. Ich denke an das Massaker, das vor einem Monat in Gaza geschah und nehme meine Gedanken mit in die große gotische Kirche mit ihrem barocken Inventar, das so gar nicht zur Gotik des Kirchenhauses zu passen scheint. Wenn doch endlich diese blutigen Taten, dieses Morden und Abschlachten ein Ende hätte! „Waffenstillstand!“ „Feuerpause!“ – so lautet mein Gebet in der Kirche St. Othmar; darüber schrieb ich einen Artikel in meinem Blog heute, ein verzweifeltes Beten für den Frieden. Langsam gehe ich entlang der Bürgerhäuser die Elisabeth-Straße hinunter. Judengasse war einst ihr Name. 1421 kam es in Mödling zu einem Pogrom. Die jüdische Bevölkerung wurde ermordet oder vertrieben, die Synagoge abgebrannt. Und wieder nehme ich solchen Rückblick mit in eine andere Kirche, in der ich nun lange verweile, unter dem Kreuzrippengewölbe und den gotischen Pfeilern und vor einem gotischen Altar. Niemand sonst verirrt sich an diesem Tag und zu dieser Stunde hinein in den Raum des Schweigens. Draußen verkauft ein Händler gebratene Maronis, ein anderer Stand bietet Langos an – ich habe keinen Hunger danach, spüre nur den Hunger nach Frieden für diese Welt, nach Gerechtigkeit und Solidarität. Schnell wird es dunkel. Rot flackert das Licht künstlicher Kerzen in den Fenstern des Rathauses. Im weißen Kaffee schreibe ich, lese ich, beobachte ich, fühle ich mich in das provinzielle Treiben in der kleinen Stadt Mödling hinein und bin doch so stark verbunden mit einer Welt, die längst aus den Fugen ist. In dieser Welt tut es so gut, sich nicht allein, sondern gehalten zu fühlen.