Abertausend mal abertausend Menschen strömen in einem dunkel-schwarz wirkenden Strom in der Mitte der Megastadt mit ihren mächtigen Mauern, hinter denen mächtige Menschen ihre Macht exekutieren, hinter denen sie regieren und in einem Strom strömen die Regierten entlang der Geschäfte, die offen sind wie die Mäuler, mit denen sie Konsumhungrige verschlingen wollen. Verloren fühle ich mich – fast verloren – gäb’s nicht schützende Gegenwärtigkeit in der Mitte der Megastadt und lass mich nicht treiben vom Strom der strömenden Menschen, die sich wie klebrige Masse zieht entlang der hellerleuchteten Straße mit den lockend verlockenden Geschäften zu beiden Seiten der hellerleuchteten Straße im zu früh dunkel werdenden Tag am Ende des Tages, am Ende der Woche, am Ende des Monats, am Ende des Jahres. Am Ende sehnt sich die Seele nach Beginn von anderem Leben. Black-Friday-Hysterie scheint die Masse erfasst zu haben. Nicht locken mich die Geschäfte mit ihren LED-Lichtern und Schaufenstern, die mir wie weit aufgerissene Augen erscheinen, nicht verlocken die feilgebotenen Waren; sie erschrecken mich vielmehr. „Maria hilf!“ formt sich als Gebet in meiner Seele, und ich flüchte in die Kirche mit ihren zwei kupferbehelmten Türmen, die gibt dieser Straße mit ihren großen und kleinen Geschäften, 450 auf knapp zwei Kilometern, den Namen. Nicht hilft mir solche Flucht. Die schwere hölzerne Doppeltür lässt sich nur schwer öffnen und hinter dem modrigen Vorhang eröffnet sich ein dunkler Barockraum, in dem die riesigen Ölbilder und Fresken längst altersdunkel und kraftlos geworden sind. Dankbar denk ich an die Krypta darunter, in die ich beim Wienbesuch führte meine Schulklassen, um zu zeigen, es gibt sie: die andere Kirche, die sich kümmert in der Gruft um die Obdachlosen, die psychisch Erkrankten, die ihren Kummer ertrinken wollen mit Alkohol. Solcher Gedanke an Hilfe für die Ärmsten schenkt mehr Licht als das Gnadenbild vorne am barocken Hochaltar. Die Kirche weckt den Eindruck, als hätte sie gar nichts zu tun mit dem Treiben draußen vor ihren schweren Türen, als böte sie auch keine Alternative, als stürbe sie vor sich dahin oder wäre sie längst schon gestorben.
Die Seelenflucht mit der U3 führt ins städterne Herz der Metropole mit der Kathedrale, die so stolz steht und aufragt zum Himmel und zentrieren möchte. In tiefblauen Himmel mit schneeweißen Wolken und goldener untergehender Sonne blickt die suchende Seele, bleibt hängen an der feingliedrigen Fassade und den Türmen, die den tiefblauen Himmel und die schneeweißen Wolken berühren. Ich berühre die Scheibe beim Eingang zum Dom, wo darunter das berühmte „05“ von einer Geschichte des Widerstands erzählt. Wie eine Drehtür erscheint der Eingang zum Stephansdom: Rechts zieht ein Menschenstrom hinein in das linke Schiff und rechts davon wieder hinaus, verwehrt bleibt der Blick von der Mitte innen nach Innen. Die Blicke der Besuchenden wirken meist empathielos. Auch mich erfasst kein Staunen heute. In meinen Gedanken tauchen immer neu Bilder und Worte aus jenem Theaterstück auf, das ich gestern im Akademietheater sah. „Kaspar“ von Peter Handke.
Genial und visionär und schonungslos hat vor weit mehr als 50 Jahren Peter Handke in seinem Stück aufgedeckt, wie Menschen durch Mächte zu apathischen Wesen gemacht werden, wie durch Sprachfolterungen die Sprache des wahren Menschseins ausgetrieben wird und wir Menschen zu beziehungslosen Menschen degenerieren, wo am Ende nur mehr der Griff zu einer Überdosis als fataler Ausweg erscheint. Im Stück des Literaturnobelpreisträgers gibt es keine Religion mehr, die rettet mit ihrer Sprache von Himmel und Göttlichem und Engeln. Trotzig und genährt von Erfahrung spüre ich aber: Es gibt den Himmel – anders freilich oft als im Sprechen der Kirche. Es gibt sie, die Engel mit ihren himmlischen Kräften, die heilen und schützen gegen Irrsinn von Gewalt und Entfremdung, die zärtlich tröstend zusprechen: Du brauchst nicht Kaspar werden. Du bist und es ist gut, wie du bist. Du musst nicht kaufen und dich verkaufen, um geliebt zu sein im Strom der strömenden Massen.