Siebenschläfergedanken

Siebenschläfertag

Am 27. Juni ist Siebenschläfertag. Was hinter dieser Bezeichnung steht, weiß kaum jemand mehr. Bei Siebenschläfer denken die meisten eher an ein nachtaktives Nagetier mit großen schwarzen Augen, einem mausähnlichen grauen Fell und einem eichkätzchenähnlichen buschigen Schwanz. Um sie geht es an diesem Tag aber nicht. Der Hintergrund ist eine alte Legende aus der Frühzeit des Christentums.

Legende als verdichtete Wahrheit

Meinen Kindern, als sie noch klein waren, habe ich gerne diese Legende erzählt und immer wieder habe ich sie auch in meinen Religionsunterricht eingebaut. In ihr steckt so viel bleibende Weisheit. Allerdings gilt es zunächst den Charakter der Legenden richtig zu verstehen. Die Textkritik weist sie als metaphorische Erzählungen auf. Um einen Kern von wahren Tatsachen ranken sich bildliche Ausgestaltungen, die die Wahrheit noch verstärken. Legenden sind nicht Ausdruck von einem irrationalen Aberglauben, sondern verdeutlichen mit ihren Bildern das, was auch rational begreifbar ist. Somit stehen sie der Ratio nicht entgegen, sondern korrelieren mit ihr.

Siebenschläfer-Legende

Die Geschichte aus der wohl bekanntesten Legendenüberlieferung, der Legenda Aurea, geht so: Am Höhepunkt der Christenverfolgung, im Jahr 251 unter Kaiser Decius, gab es in der Stadt Ephesus sieben christliche Söhne aus vornehmem Haus, die sich weigerten, das befohlene Opfer für die Götter zu vollbringen. Wer dies nicht tat, wurde mit Marter und Tod bestraft. Der Plan der sieben widerspenstigen Christen war es, sich in einer Höhle zu verstecken. Ihr Glaube war ihnen so wichtig, dass sie nie und nimmer vor dem Kaiser in die Knie gehen würden. Er gewährte ihnen zunächst eine Frist, um sich zu entscheiden. Allerdings nützten sie diese Zeit für einen anderen Plan. Zunächst verteilten sie ihr Vermögen unter den Armen. Als Bettler verkleidet ging einer von ihnen in die Stadt, um Essen zu erbitten. Am Ende der Frist, die ihnen der Kaiser gesetzt hatte, waren sie wieder beim Mahl in ihrer Höhle. Da, so Gottes Wille, fielen sie in einen tiefen Schlaf. Der Kaiser erfuhr vom Versteck der Sieben und ließ den Eingang zur Höhle zumauern, damit sie ebendort verhungern sollten. Zwei christliche Sympathisanten brachten dort eine Tafel an, um auf dieses Ereignis aufmerksam zu machen. Fast 200 Jahre später ließ ein Bürger der Stadt Ephesus auf göttliche Eingebung den Eingang der Höhle wieder freimachen. Das weckte die Sieben auf. Sie glaubten, nur eine Nacht geschlafen zu haben. Als sie hinaustraten, wunderten sie sich sehr. Nun gab es in dieser Stadt Kreuze und Kirchen und überall konnte man frei und ohne Angst von Jesus Christus sprechen. Einer der Sieben wollte mit einer längst veralteten Münze Brot kaufen. Daraufhin wird er zum Herrscher geführt. Dies wird als Beweis für die Auferstehung von Leib und Seele gewertet.

Die Legende als christlich-muslimische Brückengeschichte

Die Legende von den sieben Schläfern ist eine der vielen Brücken im christlich-islamischen Dialog. Wir finden die Legende von den sieben Schläfern in ähnlicher Form auch im Koran. Die 18. Sure trägt den Titel „die Höhle“. Liebevoll wird dort geschildert, wie Gott ihre Körper immer wieder wendet, damit die Leiber nicht verwesen, und wie ein Hund vor der Höhle Wache hält. Als sie nach 300 Jahren auferweckt werden, verkünden sie den Glauben an den einen Gott.

Angesichts der Feindschaften, die von fundamentalistischen Richtungen in beiden Religionen gesät werden, tut es gut, auch am Beispiel dieser Legende Gemeinsames zwischen Christentum und Islam zu pflegen. Deswegen wurde vor einiger Zeit in der Siebenschläferkirche Vieux-Marche in Frankreich eine christlich-muslimische Wallfahrt angeregt. Goethe hat im west-östlichen Divan vor allem die islamische Tradition der Sieben-Schläfer aufgegriffen und in genialer Weise gezeigt, wie sich in diesem „Stoff“ das allgemein Humanistische und Religionenumfassende verdichtet.

Die Legende als die zu lesende Trostgeschichte

Christenverfolgungen gab es nicht nur zur Zeit von Kaiser Decius. In vielen Staaten dieser Welt werden heute Christinnen und Christen diskriminiert, bedroht und verfolgt. Weltweit sind bis zu 100 Millionen Christen betroffen und die Tendenz ist steigend. Kirchen sind immer wieder Ziel islamistisch-terroristischer Anschläge – wie vor kurzem auch in der Republik Dagestan.

Das Recht auf Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht wird weiterhin verletzt und eingeschränkt. Am Siebenschläfertag ist es notwendig auf den Wert der menschenrechtlich garantierten freien Religionsausübung hinzuweisen.

Siebenschläfer und der Wert der Gewissensentscheidung

Die legendarischen Siebenschläfer widersetzen sich dem Befehl des Kaisers und seiner Gehilfen. Sie folgen nicht einer für sie als falsch empfundenen staatlichen Anordnung, sondern der inneren Überzeugung von dem, was für sie als richtig ist. Wenn es in der Legenda aurea sowie im Koran dann heißt, dass die Gewissenstreuen am Leben blieben, so kann es so gedeutet werden: Wer sich selbst mit seinem eigenen Leben für Wahrhaftigkeit einsetzt, wird letztlich „für immer leben“. Alles, was ein Mensch an Gutem getan hat, kann aus der Höhle genommen werden und aufwachen.

Aus der Höhle treten

Die Höhle, so hat es Plato vor vielen Jahrhunderten beschrieben, ist der Ort, indem wir alles nur wie Schatten wahrnehmen und es ist daher notwendig, ins Licht zu treten, um die wirkliche Welt zu sehen. In der Aufklärung ist das Verlassen der Höhle die Illumination, mit der wir ins Licht der Vernunft treten und den Aberglauben bzw. die Verschwörungsmythen hinter uns lassen. Mit Adorno können wir davon sprechen, dass die Höhle die kapitalistische Scheinwelt ist, die gesamte Daseinsform, die durch die kapitalistische Produktionsform verdorben ist. Die Höhle ist die objektivierte Verblendungsform und, wie es Adorno formulierte.

Tiefenpsychologisch-persönlicher Aspekt

Das Befreiende an dieser Geschichte ist der leib-seelische Auferstehungsaspekt. Auferstehung ist verbunden mit einem Begleitetwerden in der Dunkelheit und Abgesperrtheit der Höhle – die Schlafenden werden göttlich gewendet. Auferstehung ist ein Befreitwerden durch eine äußere Kraft, einen Menschen, der die Schlafenden herausholt. Auferstehung hat mit Leib und Seele zu tun.

Siebenschläfer-Auftrag

In der Tradition der Siebenschläfer möchte ich selbst leben. Mit dem Mut, stets dem eigenen Gewissen zu folgen, selbst wenn dies mit Unverständnis oder Kritik verbunden ist. Für mich bedeutet es ein Nein zu allen Kriegen und Kriegsvorbereitungen und ein Nein zur Zerstörung der ökologischen Lebensbedingungen. Was den Siebenschläfern Kraft zum Widerstand gab, lag vor allem auch in der Gemeinschaft. Sie waren letztlich zu siebt. So konnten sie sich stärken. Wo solcher Widerstandsgeist und Mut und Gemeinschaft zu finden ist, werden wundersame beschützende göttliche Kräfte spürbar. Da verfaulen die Leiber nicht, sondern werden gewendet, um neu und frisch in die Welt hinaustreten zu können.

Klaus Heidegger, 27. Juni 2024

Kommentare

  1. Sehr schöne Geschichte, danke für die Aufbereitung und die weiterführenden Gedanken. Es braucht Mut und den Geist dieser Pioniere, um dem eigenen Gewissen und der Wahrheit treu bleiben zu können.

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