Wo Religion zur Heimat wird und auch wieder nicht

Lebensgroße Statuen werden von der Kirche ins Freie getragen. Vier Frauen in Tracht haben die Statue der Hl. Anna geschultert. Hinter ihnen gehen weitere Frauen vom Frauenbund. Feuerwehrmänner mit traditionellen metallglitzernden Helmen und Uniformen aus Lodenstoff kümmern sich um einen vergoldeten Josef mit Kleinjesussohn. Es ist Patrozinium. Traditionell findet an diesem Tag eine Prozession statt mit all dem, was in Tiroler Volks-Kultur-Religiosität dazu gehört. Das hat Ordnung und schenkt Heimat. Schützen mit ihren Hüten, auf denen weiße Auerhahnfedern im warmen Sommerwind wehen. Die Blasmusikkapelle spielt auf. Kinder schwingen gelbweiße Fahnen. Eine besondere Fertigkeit brauchen die Männer, um die großen, schwerbestickten Prozessionsfahnen stets in der Vertikale zu halten. In der Mitte des Zuges, der von der Kirche über die Felder der Oberinntaler Gemeinde zieht, geht die Geistlichkeit und ganz in der Mitte unter dem Himmel schreitet der Priester mit einer goldenen Monstranz und dem „allerheiligsten Altarsakrament“.

Von Kindestagen an sind mir diese Prozessionen vertraut, die Rituale mit ihren Worten und Gesten. Als Kind war ich meist als Ministrant dabei und dann später mit meinen eigenen Kindern und bis vor kurzem auch einmal im Jahr bei der Dorfprozession als Himmelträger. Einer meiner Söhne war eifriger Ministrant und ein anderer bei der Musikkapelle. Prozessionen waren Ereignisse, wo ich mit meinen familiären Beziehungen dazugehörte: zum Dorf und zur Kirche.

Ich gehe diesmal ganz am Ende des Prozessionszuges wie jemand, der nicht so ganz dazugehört, der mehr beobachtet, als käme er von außen. Bin ich wohl auch etwas. Ein Gast. Ein Oberinntaler aus einem anderen Dorf, der hierher eingeladen wurde, weil sein Freund ein besonderes Jubiläumsfest feiern kann. Der Peter- und Paultag fällt heuer auf einen Samstag. Eigentlich ist es ein untypischer Tag für einen Festgottesdienst plus Prozession. In dieser Gemeinde spielt es keine Rolle, ob es ein Werk- oder Sonntag ist. Da wird jedes Jahr das Patrozinium ganz groß gefeiert. Fällt es auf einen normalen Wochentag, so gibt es für die Pflichtschüler sogar schulfrei.

Am mächtigen Turm der Pfarrkirche flattern eine gelbweiße und eine rotweiße Fahne. Tirol und katholische Kirche als zwei Fixgrößen, die zusammengehören. An der nordseitigen lachsbraunen Fassade steht das Erbauungsjahr in römischen Lettern: MDCCCXXXXVIII. 1848 sinniert mein Geist. Revolutionsjahr. Die Kirche ist groß wie ein Dom. 1400 Menschen sollen hier Platz finden. Am Patroziniumstag ist die Kirche gut gefüllt. Ich rechne schnell: Rund 2600 Einwohner hat Silz. Der Prozentsatz der Anwesenden ist also beträchtlich.

Viele Gedanken gehen mir bei der Prozession durch den Kopf. Aus theologischer Sicht ist es schön, dass der Glaube buchstäblich in die Welt hinausgetragen wird, dorthin, wo die Menschen leben und arbeiten, wo sie in die Kindergärten oder in die Schule gehen, vorbei an den Wohnhäusern und an den für diesen Ort so typischen Erdäpfelfeldern. Hier in der weiten Ebene zwischen den Abhängen des Tschirgantmassivs im Norden und den Sellrainer Alpen im Süden sind noch nicht alle Flächen verbaut. Da gibt es selbst noch Streuobstwiesen. Theologisch passend ist es auch, dass sich eine Nachfolgegemeinschaft miteinander auf den Weg macht, hinausgeht, sich zugleich orientiert mit dem Jesusbrot in der Mitte. Bei den Prozessionen werden alle zu Kumpaninnen und Kumpanen Jesu, schrieb ich vor einiger Zeit in einem Artikel für die Tiroler Tageszeitung.

Die Prozession geht an der Schützenkanone vorbei, die an diesem Tag mehrmals für Salutschüsse geladen wird. 1809 steht auf der Kanone. Der Prozessionszug ging an einer Statue vorbei, die an einen der Helden der Tiroler Freiheitskämpfe unter Andreas Hofer erinnert. Einer der vier Altäre draußen auf den Feldern ist bei dem Gebäude der Schützengilde. Wieder wird an 1809 erinnert – zugleich steht auf dem Gebäude: Erweitert und ausgebaut 1942. Da bekomme ich unangenehme Gänsehaut selbst bei Hochsommertemperatur. Die Schützen schießen eine Ehrensalve. Ich denke an die Deutung: Man schießt die letzte Patrone in die Luft, um damit keinen Feind mehr töten zu können. Immer wieder kreisen dabei meine Gedanken um die Lesung, die ich in der Kirche zuvor hörte und auf die in der Predigt nicht eingegangen wurde. Ich verknüpfe sie mit dem Auftreten der Schützen, verknüpfe sie mit den vielen Berichten aus dieser Welt, wo von Gewalt und Kriegen die Rede ist, verknüpfe sie mit dem Wissen, dass es auch Engel gibt, die Menschen in scheinbar ausweglosen Gewaltsituationen zur Befreiung verhelfen können. In meinem Kopf ist längst schon ein Text entstanden. „Gelobt sei das allerheiligste Altarsakrament“, heißt es wieder aus dem Lautsprecher und der Priester macht den Segen mit der Monstranz.

Nach dem Stopp macht sich der Prozessionszug weiter auf den Weg. Die Geistlichkeit mittendrin. Warum, so denke ich mir, heißt es mit einem weiblichen Begriff „die Geistlichkeit“, wo es doch lauter Männer sind, die als „Geistliche“ mit dabei sind? Widersprüche in unserer Kirchenwelt gehen da wohl auch mit. Weder Petrus noch Paulus waren jedenfalls „geweihte Männer“ und in der Jesusbewegung gab es auch eine Apostelin Maria Magdalena und andere Frauen. Paulus selbst bestellte Gemeindeleiterinnen und Diakonissinnen. Von Petersberg sind bei der Prozession viele Klosterschwestern und Ordensbrüder dabei. In schwarzen Talaren ein gutes Dutzend Männer und mit schwarzem Habit auch ein gutes Dutzend Frauen. Um sie ranken sich so viel unbekannte Geheimnisse. Ihr Leben auf der nahen Burg St. Petersberg, das zugleich der Sitz vom Engelswerk ist, bleibt mir verborgen. Zugleich weiß ich genug, um zu sagen: Das ist für mich so weit weg von dem, wie ich Glaube und Kirche sehe.

Wieder läutet die mächtige Glocke. Der Klang kommt zwischen den beiden flatternden Fahnen aus den Fenstern des Turmes. Der Verkehr auf der Bundesstraße wird aufgehalten. Danach möchte ich ein Mitglied der Letzten Generation sein und mich am liebsten am Schutzweg über der Straße ankleben. Doch das Leben geht weiter mit all seinen Ambivalenzen. Für mich geht es später zurück zum Bahnhof mit seiner Architektur aus der Gründungszeit der Arlbergbahn. In der Zeitung steht, dass bei fortschreitender Erderhitzung bald schon einmal Palmen im Inntal wachsen könnten – grad‘ so wie am Gardasee.

Klaus Heidegger

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