Mühlauer Klamm, Arzler Scharte, Mandlscharte, Gleirscher Scharte, Goetheweg und Hafelekar: Bergwege mit Tiefen und Höhen und Weiten

Hitze und Gedränge des Stadtlebens

Die Stadt ist tropisch-heiß an diesem Julitag. Die Asphalt- und Betonflächen werden zu Kochplatten. Die kleinen Kinder spüren diese Hitze am besten, weil sie ja ganz unten sind, dort, wo es in der Stadt am heißeste ist, bei den zugepflasterten, zugeteerten und nun aufgeheizten Flächen. Erwachsenen rate ich einmal, auf dieser Höhe zu sein, um zu merken, wie es den Kleinen geht, die auf Nasenhöhe auch gleich die Abgase der Autos noch mehr einatmen und den Lärm der Motoren noch besser hören. Die Politik orientiert sich nicht an ihnen. Die Herrschenden sind Gefolgsleute der Autofahrenden, der Ölindustrie, der Kfz-Händler. Die Köpfe der Menschenmasse sind infiltriert von Servus-TV-Ideologien und Klimawandel-Verharmlosern. Der Inn führt bis an die Ränder der Ufermauern reißend-braunes Hochwasser. Es hat wieder Muren und Unwetter gegeben. Wieder. Und morgen wieder. Und das Wetter spielt verrückt angesichts der Kette von erwärmten Ozeanen, Unmengen von Flüssigkeit, die in kurzer Zeit dort aufgenommen und über den Alpen niedergelassen werden. Am Ende des Monats wird es wieder heißen: „Es war der heißeste Juni seit Beginn der Aufzeichnungen. Es war der Monat mit den größten Unwetterkatastrophen.“ Faustgroße Hagelkörner haben irgendwo in Österreich die Felder der Bauersleute vernichtet. Viel schlimmer sind die Verarmten dieser Welt dran. Rekordtemperaturen von über 40 Grad in asiatischen Gebieten und nun massive Überschwemmungen, die Millionen Menschen obdachlos und heimatlos machen, Waldbrände in den ausgetrockneten Gebieten Griechenlands. Die Liste ist lang. Noch länger sind nur die automobilen Urlauberkolonnen über die Alpenpässe vom Norden in den Süden.

Mit Georg Trakl durch die Mühlauer Klamm

In Innsbruck lässt sich gut aus der Stadt flüchten und bleibt doch in Innsbruck. Ich passiere die Altstadt, in der sich Touristenmassen schieben und das Goldene Dachl hunderttausende Mal vor die Linsen der Geschobenen kommt. Ich fahre über den Inn mit seinem reißend-braunen Wasser und schon bin ich bei meinem Startpunkt in Mühlau beim Eingang der Klamm, unweit des Ortes, wo Georg Trakl und sein Freund Ludwig von Ficker begraben sind. Meine schreibende Beschäftigung mit den aktuellen Kriegssituationen lässt mich oft an Trakl denken. Wohl wird der eigenwillige Poet  auch selbst hinein in die Schlucht gegangen sein, die unweit seines letzten Lebensortes war und vielleicht entstand dort auch sein Gedicht, das zu den Schreckensorten von heute passt, in die immer auch eine Hoffnung auf Erlösung eingepflanzt ist:

„Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt;
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Elend.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen.
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.“

Trakl sei kein Gebirgsmensch gewesen und gegenüber der Hungerburgbahn soll er tiefsten Widerwillen gehabt haben. Ich nehme mir Georg Trakl und Ludwig von Ficker, der nicht von ungefähr mit Martin Heidegger bestens befreundet war, als geistige Begleiter mit hinein in ihre Heimatklamm. Da bin ich ganz allein. Einsamkeit, um in die Seelentiefe zu gehen. Mächtig rauscht der Mühlauer Bach und stürzt sich hinunter ins Tal. Das Licht der Sonnenstrahlen, die noch zwischen dem kräftig-grünen Blätterbewuchs der Bäume dringen können, zaubert aus den aufgeworfenen Wassertropfen einen zauberhaften Schleier. In meinem Smartphone ist ein Gedicht von Georg Trakl gespeichert, das ich auf einem der kühlen Bänke auf der Todeskanzel, einem imposanten Felsbrocken mitten in der Klamm umspült vom Bach, nun lese. Nichts drängt mich heute, schneller zu sein, doch muss ich aufpassen, mich von der Schwermut des Dichters nicht mitreißen zu lassen.

Die Nacht
Dich sing ich wilde Zerklüftung,
Im Nachtsturm
Aufgetürmtes Gebirge;
Ihr grauen Türme
Überfließend von höllischen Fratzen,
Feurigem Getier,
Rauhen Farnen, Fichten,
Kristallnen Blumen.
Unendliche Qual,
Daß du Gott erjagtest
Sanfter Geist,
Aufseufzend im Wassersturz,
In wogenden Föhren.

Golden lodern die Feuer
Der Völker rings.
Über schwärzliche Klippen
Stürzt todestrunken
Die erglühende Windsbraut,
Die blaue Woge
Des Gletschers
Und es dröhnt
Gewaltig die Glocke im Tal:
Flammen, Flüche
Und die dunklen
Spiele der Wollust,
Stürmt den Himmel
Ein versteinertes Haupt.

Mit Hexen durch den Klammsteig

Zugleich gelingt es mir, in Gedanken an das Schöne, das mich hält und aufrichtet, mich wieder von der Schwermut Trakls zu lösen. Die „Schweinsbrücke“ am Beginn des Klammsteigs hat eine wunderbare Bedeutung bekommen, mehr noch und bedeutsamer für mich als die Legende, die mit ihr verbunden sein soll. Aber das ist eine andere Geschichte. Schon die tiefsinnige Legende von der Schweinsbrücke schenkt Hoffnung und enthält einen Weisheitskern, dass es gelingen kann, in gemeinsamer Aktion und mit List stärker als „der Teufel“ zu sein. Die Sage geht so: Als immer wieder die Brücke über den Bach von Muren und Lawinen zerstört wurde, bot der Teufel an, eine neue Brücke zu errichten, die wohl stabiler sein würde. Er verlangte dafür aber von den Mühlauern, dass die erste Seele, die die neue Brücke quere, ihm, dem Teufel, gehören solle. Die Mühlauer beschlossen daraufhin, ein Schwein über die Brücke laufen zu lassen.  

Tief atme ich die wassergefüllte Luft ein. Auf jedem Blatt und jeder Nadel sind die Wassertropfen der Gischt. Zwischen den Ästen haben Spinnen wunderbare Kunstwerke geschaffen. Vorbei geht es an der Teufelskanzel und auf einer weiteren Holzbrücke zur Hexenkuchl. Zum Glück sind inzwischen die frauenfeindlichen Hexenfiguren aus der kleinen Höhle entfernt worden. Ein anderes, ein neues Denken, in dem kluge und naturverbundene Frauen nie mehr als Hexen verfolgt werden, soll das Pardigma von Gegenwart und Zukunft sein. Dafür stehen wohl auch die Graffities, die auf die gigantischen Lawinenbrecher gesprayt wurden, die heute Mühlau vor Lawinen schützen. „LOVE YOUR VULVA“ steht da auf einer Betonmauer mit entsprechender Grafik.

Beim Rosnerweg gehe ich weder rechts noch links, sondern geradeaus die Klamm weiter. Der Bach hat im Laufe von Jahrhunderten eine Schlucht in die Kalkfelsen gegraben. Ein Schild warnt vor Sturzbächen bei Gewitter. Der Steig ist fast verwachsen, Meine Dreiviertelhose ist schon nass von dem nassen Gewächs, das über den Steig hinein wächst. Zweimal gilt es, den Bach zu queren, einmal über ein dürftiges Brett und das zweite Mal hieß es Schuhe ausziehen und durch den kräftigen Bach steigen. Die Vegetation ändert sich laufend. Auf Höhe der Rumeralm, die aufsteigend zu rechten Hand liegt, sind mächtige Laubbäume. Wo die Bäume aufhören, beginnen dann die großen Geröllhalden der Arzler Reise, die so gut vom Tal aus zu sehen sind. Sie führen hinauf zur Arzler Scharte (2158 m). Nur selten rutsche ich im losen Geröll ein wenig zurück. Es hängt alles davon ab, wie umsichtig man steigt. Von Innsbruck weg sind mir auf der ganzen Strecke von Mühlau bis zur Scharte nur drei Menschen begegnet, die von der Pfeishütte kamen. Da ist viel Freiraum für Gedankenflüge.

Mit Goethe auf dem Goetheweg

Auf der Scharte weht ein angenehmer Wind. Imposant sind nun die Felsgestalten. Sanft liegt das Tal zur Pfeishütte im Norden. Es beginnt der berühmte Goetheweg, der sich rund um die Gipfel der Nordkette legt, einmal nördlich um die Mandlspitze herum und dann wieder südlich der Gleirschspitze. Es ist ein Panoramaweg der Extraklasse mit Tiefblicken hinunter nach Innsbruck oder hinein ins Karwendel. Literarisches Einfühlungsvermögen mag wohl bestimmend gewesen sein, einen der schönsten Höhenwege Tirols nach Goethe zu benennen. Der große Dichterfürst liebte die Natur und machte sie zum Stoff vieler seiner Werke. Hätte Goethe jemals diesen Weg gehen können, hätte er wohl weit öfters als ich einen der Kalksteine genau angesehen, auf denen sich manchmal die Strukturen von Muscheln noch finden – die damit Aufschluss geben für erdgeschichtliche Dimensionen. Goethe hätte die tektonischen Platten analysiert, mit denen das Karwendel im Erdzeitalter entstand und er hätte wohl auch in dem einzigartigen Reichtum kleiner Alpenblumen seine Suche nach der Urpflanze fortgesetzt und wäre bestätigt worden, was wir Menschen des 21. Jahrhunderts so gerne übersehen, dass die Gesetze der Natur so einzigartig sind und eine Richtung vorgeben, die uns allen gut täte.

Bis zum Hafelekar waren es von Mühlau weg für mich 1893 HM aufgeteilt auf 11 Kilometer. Die Seele freilich legte eine unvergleichlich weitere Strecke in Höhe und Weite zurück. Mit Goethe konnte ich fühlen, dass die objektive Naturlandschaften von Höhen und Tiefen immer zugleich auch subjektive Seelenlandschaften sind, dass geographische Formen und ihre Beschaffenheit ein inneres Leben widerspiegeln. All dies wiederum war maßgebend auch für das literarische Schaffen von Georg Trakl, womit sich der Kreis meines Gehens durch innere und äußere Welten, zwischen objektiven Wirklichkeiten und subjektiven Wahrnehmung wieder schließt. Zurück zur Stadt in das motorengetriebene Getreibe denke ich noch weiter nach über Goethe. Ein Aphorismus von ihm bringt ihn wohl in die Nähe von Fridays for Future. Goethe im O-Ton: „Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.“

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