Wenn ich gefragt werden würde, wer meine Lieblingsmaler sind, so ginge ich mit dem Antworten wohl zunächst von mir aus, meinem Sein und Streben, meinen Gedanken und Empfindungen, die stets in Interaktion zueinander sind. Dann würde ich auf solches Fragen sofort eine Antwort parat haben: Marc Chagall. Eine große Ausstellung in der Albertina schenkt mir Gelegenheit, die Welt um mich und mich selbst in Chagalls Bildern wiederzufinden und staunend zu verstehen.
Die Gedanken bleiben hängen bei dem, was im Zentrum vieler seiner Bilder ist: Der Einheit von Mann und Frau, von Männlichem und Weiblichem, der Liebe zwischen beiden, die befreit und tanzen lässt, selbst in einer Welt, die von Krieg und Zerstörung geprägt ist. Diese Liebe malt Chagall mit kräftig bunten lebensfrohen Farben, kräftigem Rot oder Blau, Farben des Lebens und des Himmels, die sich abheben vom Schwarzgrau destruktiver Kräfte der Trennungen und des Todes.
Für Chagall gibt es auch nicht mehr die Trennungen zwischen den Religionen. Die zentralen Grunderfahrungen des jüdischen Volkes klingen ein mit den zentralen Grunderfahrungen des christlichen Glaubens. Der Exodus aus Ägypten und der Kreuzestod des Juden Jesus werden als gemeinsame Grunderfahrungen dargestellt. Der Jesus am Kreuz wird vom Juden Chagall als jüdischer Messias dargestellt, zugleich überspringt Chagall jede fundamentalistisch vereinnahmende Interpretation beider Religionen.
Die Welt ist nicht grau in grau, sondern voll kräftiger Farben, die zwar nicht miteinander verschmelzen, und doch zusammen ein harmonische Ganzes inmitten von Disharmonien ergeben.
Im Bild „der Ring“ sitzen sich ein Mann und eine Frau an einem Tisch gegenüber. Die Frau hält gedankenversunken einen Apfel in der Hand – wie Eva, der Mann pflückt sich vom Blumenstrauß vor ihm eine rosarote zarte Rose, so als würde er sie der Frau gleich schenken. Sie blicken beide in sich, in eine Zukunft, die Neues und zugleich Unbekanntes verspricht. Da ist eine Einheit greifbar, ohne dass sie schon da wäre.
Chagall brachte seine eigenen Liebeserfahrungen ins Bild – und zugleich sind es Erfahrungen, die sich im Leben von uns allen ereignen können, die in Abertausenden Liedern besungen, in Gedichten verdichtet und in Kunstwerken eine bleibende Wirklichkeit erhalten haben. Im Bild „Erste Begegnungen“ sind Mann und Frau miteinander verschmolzen – und bleiben doch eins, jedes Wesen mit seiner eigenen Aussagekraft und Stärke, ja, die Begegnung von beiden stärkt die Farbe des je anderen. Bella, die große Geliebte von Chagall, hat selbst zum Bild ihres Künstlergatten geschrieben, wie ich in der Tafel neben dem Gemälde lesen kann: „Plötzlich fühle ich mich wie von der Erde weggehoben, du stößt dich mit einem Bein vom Boden ab. Dein Kopf dreht sich, dazu verdrehst auch den meinen, schmiegst dich hinter meine Ohren und flüsterst mir etwas zu. Vereint schweben wir über dem geschmückten Zimmer, kommen zum Fenster, wollen hindurch.“ Hinter der liegenden Frau wird ein weißer Flügel sichtbar, so als wäre sie ein Engel. In ihrer Hand hält sie eine zärtliche Blume, die sie wohl gerade von ihrem blauen Geliebten erhalten hat. Die beiden Körper schmiegen sich zusammen. Die Hände bleiben offen. Sie umklammern nicht. Die Nasenspitzen berühren sich. Im rechten Bildrand unten sieht ein bunter Hahn dem Liebespaar zu.
Wieder und wieder bleibe ich vor einem Bild stehen, fasziniert, staunend, dankbar. Eine Person schmiegt sich auf einen Hahn. So wird metaphorisch die Trennung von Natur-Mensch aufgehoben. Im gleichen Winkel neigt sich weit dahinter auf einem See ein Liebespaar einander zu. Sie sitzen in einem kleinen Ruderboot auf einem See. Chagalls Liebesbilder sind kräftig, und doch ohne Kitsch, sind zärtlich, und doch kräftig, sind klar und doch bleibt das Ergebnis offen, weil es immer wieder neu gelebt werden will.
Über die Bilder mit tiefreligiösen Motiven will ich diesmal nicht schreiben. Dazu habe ich viel mit meinen Schülerinnen und Schülern gearbeitet: Über den Jesus am Kreuz, der zugleich mit einem jüdischen Gebetsschal seine Scham bedeckt; über den Rabbiner, der sich an seine Torrolle klammert, während hinter ihm sein Gschtettl brennt; über die Geigenspieler, die in die Kärglichkeit der jüdischen Ghettos den Tanz bringen. Wenn ich an den Krieg in der Ukraine denke, dann wird mir nochmals verstärkt bewusst, wie zeitlos Chagall gemalt hat. Eines seiner Bilder zeigt den Schrecken des Krieges, den Chagall gleich doppelt erlebt hat.
Das letzte Bild der Ausstellung ist wie eine Zusammenfassung. Chagall hat sich selbst auf eine schwarze Tafel gemalt, wie Jesus am Kreuz. Doch blickt er zugleich nicht wie ein Gemarterter. Sein Augen blicken klar in eine bestimmte Richtung, in der es hell ist. Seine Hand ist gelöst vom Querbalken. Die Welt außerhalb der Staffelei ist hell und bunt. Chagall – als Jude und als Flüchtling, als jemand, dessen Bilder von den Nazis als entarte Kunst erklärt wurden und dann verbrannt wurden, hat sich selbst zugleich befreit von dem Vergangenen, hat nie aufgegeben, hat wieder Heimat gefunden. Er ist durch seine Kunst zu einer erlösenden Gestalt geworden, die befreiend bis ins Heute wirkt. Eine Tafel gegenüber bringt noch ein Zitat. Chagall: „Nennt mich nicht einen Phantasten, ich bin Realist.“
klaus.heidegger, 24.11.2024