„Dann tritt ein, dass Menschheit sich als Raubtier selbst zerfleischt wie Monstren aus der Tiefe.“ Das ist nur eines der starken Zitate aus „King Lear“ von Shakespeare. Seine tiefschwarze Tragödie ist der große Klassiker der Weltliteratur und des Theaters. Sie wird im Spieljahr 2024/25 im Burgtheater in Wien aufgeführt. Am Beginn des Christkönigsonntags war ich dort.
Um zu sehen, wie autoritäre Führer die Welt in Kriege verstricken, müsste ich nicht ins Theater gehen. Um zu verstehen, warum dies geschieht, kann der Blick in die klassische Weltliteratur helfen. Schon Shakespeare hat die politischen und sozialpsychologischen Mechanismen aufgedeckt, die ihre zerstörerische Dynamik für Beziehung, für Familien und für Gesellschaften mit sich bringen. Von den mimetischen Zirkeln – dem destruktiven nachahmenden Begehren, das seine Opfer fordert – sprachen meine Lehrer an der theologischen Fakultät der Universität Innsbruck.
Ein Theaterabend in einer der bedeutendsten Bühnen Europas ist an sich schon ein Erlebnis – ganz unabhängig von dem Stück, das gerade aufgeführt wird. „Die Burg“ mit ihrer imposanten Fassade flößt von außen Respekt ein und der Ruf der Burg eilt jeder real-analogen Annäherung voraus. Auf der anderen Seite des Universitätsrings hat der Christkindlmarkt am Rathausplatz geöffnet und die Metropole liegt im Fieber der „Black Week“. In den Straßen und auf den Plätzen drängen sich die Menschen. In der Eingangshalle und den Foyers im Theater geht es ruhig zu. Man schreitet ehrfürchtig die alten Marmorstiegen unter den Lampen hinauf, die konkurrenzlos jedes Retrogeschäft in den Schatten stellen würden und jedes Antiquaritäten-Geschäft in Wien überfüllen könnten. Die Tapeten an den Wänden erinnern an den Stil längst vergangener Zeiten. In den Gängen und Fluren der Burg ist Geschichte zuhause.
Mir fällt es einerseits schwer, die komplizierten Handlungsfäden des Stückes von „König Lear“ auch nur annähernd zu begreifen und gebe es dann während der Dreieinviertelstunde auch auf. Wer ist da mit wem im Streit? Wer integriert da gegen wen? Erschwerend kommt wohl auch hinzu, dass Männerpersonen von Frauen gespielt werden und dass einige der Schauspielenden zugleich mehrere Rollen spielen. Verwirrend ist weiters, dass im Shakespeare-Stück selbst zwei Familiengeschichten parallel erzählt werden.
Im Theater wirkt aber als ganzheitliches Ereignis die Bühne schon für sich und die Geschichte wird durch die Darstellung begreifbar. Das stärkste Bild wird mir am besten in Erinnerung bleiben. König Lear wird zu Beginn des Stückes von einer Plattform auf die Bühne gebracht, die von einer Schar schwarzgekleideter gehorsamstreuer Ritter getragen wird. Die Macht des Königs wird gestützt von Menschen, die ihre Individualität aufgegeben haben, wo einer dem anderen gleicht, die sich zu reinen Befehlsempfängern erniedrigt haben. Sie tun das, was der König befiehlt; sie geben seine Stimmungen wieder. Das Bild erinnert mich an die autoritären Führer im Heute, an Putin, wie er sich mit Vasallen umgibt, an die Soldaten Nordkoreas, die nun als Kanonenfutter in die Schlacht geworfen werden. Shakespeare deckte auf, wohin Rache und Vergeltung führen – und wir können es sehen im Heute, wohin die militärischen Vergeltungsschritte führen, die im Namen der Selbstverteidigung geschehen. Ein Ausstieg aus diesen destruktiven Eskalationen wäre möglich. Im Stück von Shakespeare ist es die jüngste Tochter von König Lear, in der Gegenwart sind es wohl die Wehrdienstverweigerer und Deserteure, die nicht mehr mitspielen in diesem grausamen wechselseitigen Abschlachten. Was im Stück von Shakespeare das Ausstechen der Augen ist, sind heute die Bomben, mit denen Menschen getötet oder zu Invaliden geschossen werden, und es sind die Antipersonenminen, die aktuell von den USA an die Ukraine geliefert werden. Die Duelle im Heute sind wesentlich grausamer als die Duelle, wie sie Shakespeare vor 400 Jahren im Blick hatte. Über die Jahrhunderte geht es in der Weltpolitik darum, sich mit Gewalt gegen andere durchzusetzen. Die gewalttrunkene Sprache bei „König Lear“ findet zugleich ihre Fortsetzung in den Parolen von FPÖ-Politikern, die am liebsten die geplante Ampelkoalition „an die Ohrwaschl“ ziehen würde oder es anstreben, dem politischen Gegner eine „ordentliche Watschn“ zu geben. An diesem Wahlwochenende in der Steiermark wird nicht König Lear auf einer Plattform bejubelt, sondern die Könige Kickl und Kunasek.
Damit wohl ist eine weitere Brücke über 400 Jahre zwischen Shakespeare und dem Jetzt gespannt. Die Tragik um König Lear nimmt seinen Lauf durch seine ausgeprägt narzisstischen Züge. Er will umschmeichelt werden – vor allem von seinen drei Töchtern. Zwei der Töchter wiederum streiten sich darum, welcher wohl die Königinnenwürde zukommt.
Nur gut, dass es da bei all den narzisstischen Machtspielen die anderen Stimmen gibt, die bei Shakespeare und in der höfischen Theaterwelt als Narren bezeichnet werden. Doch es sind jene prophetischen Stimmen, die die Wahrheit aufzeigen und Wege aus Krieg und Zerstörung vorschlagen. In den letzten Szenen der Aufführung am Burgtheater kommt der König, unterstützt von seiner mutigen Tochter Cordula, wohl zur späten Erkenntnis und wird selbst irre. Der Täter sieht sich nun als Opfer und tritt mit einer Art Dornenkrone und merkwürdig rotem Mantel auf. Der einst um Ruhm Besorgte sieht sich nun als der Verspottete.
Damit unsere Welt nicht in der düster dystopischen Welt von „König Lear“ endet, wo am Ende nur Tod sein wird, braucht es jedenfalls die anderen Kräfte, bräuchte es Licht und Farben, die es weder bei Shakespear`s Lear noch beim Blick auf die gegenwärtigen Kriegsdynamiken gibt.
Der Anderskönig wird an an diesem letzten Wochenende des kirchlichen Kalenderjahres gefeiert. Er ist die Alternative zur Gewalt, die aus den mimetischen Verirrungen entsteht. Der Christkönig setzt seine Herrschaft nicht auf Kosten der anderen durch, sondern lebt mit den Menschen auf Augenhöhe. Er lässt sich nicht von Marionetten-Menschen tragen, sondern benützt den Esel als prophetisch-messianisches Symbol.