Grenzenlos fühlen in Andersorten – Pendeleien zwischen Fimbatal und Silvretta Skiarena

Grenzerfahrungen

An manchen Orten und zu manchen Zeiten lösen sich unnötige Grenzen, die Menschen willkürlich zogen, um sich abzugrenzen von anderen, um ihre Besitztümer zu sichern, damit Mächtige ihre Macht erhalten können. Um solche Grenzen werden heute noch anderswo blutige Kriege geführt. Es tut gut, Orte zu fühlen, wo sich Grenzen lösen, damit Menschen und Völker zueinander finden können. In manchen Beziehungen lösen sich Grenzen, die gezogen wurden, um sich zu schützen aus Angst, in der Seele verletzt zu werden, aus Angst, nicht zu genügen. Ein Angenommensein schenkt Orientierung gerade dort, wo sich kein Weg mehr zeigt.

Fimbatal

Die mächtige Welt des Kapitals und der Technokratie befindet sich auf der anderen Seite des langen Hochtales, das Graubündnerland und Tirolerland miteinander verbindet. Mein Tag beginnt im Schneegestöber auf der Heidelberger Hütte weit hinten im Fimbatal. Der im Winter heiß ersehnte kalte Schnee kommt jetzt in Fülle im Frühling. Endlich bekommt die ausgetrocknete Landschaft wieder Feuchtigkeit vom Himmel geschenkt. Das frische Weiß fühlt sich locker und leicht an. Manchmal ist der Nebel beim meditativen Hinausgleiten aus dem Tal so dicht, dass die Sinne nicht mehr zwischen Oben und Unten und einem Links und Rechts unterscheiden können, es ist nur mehr ein Eintauchen ins Weiß. Manchmal ist am Wegrand die Spur eines Hasen oder eines Schneehuhnes. Ich fühle mich geborgen in der Fülle an Weiß. Wie ein Künstler haben Schneefall und Wind auf die Steine im Bach der Fimba weiße Hütchen gezaubert. Der Wind ist wie ein Konzert, das den Ohren und der Seele schmeichelt.

Ski-Arena

Von der einen Welt der Skifahrindustrie kamen wir gestern. Vor zwei Tagen erst wurde in Österreich der „Erderschöfungstag“ als mahnende Markierung angegeben. Mit Stahl und Beton haben in der Silvretta Skirarena Tourismusmanager und Technokraten die Natur erobert für die Massen. Die Welt des Konsums, des Verbrauchens, des energieintensiven Mitteleinsatzes, der Entfremdung von Mensch-Natur hat diesen Teil der Alpen längst zurecht gerichtet und in Besitz genommen. Was mache ich hier, frage ich mich? Ich fühle mich oft wie ein Fremdkörper und werde doch Teil dieser Welt, die nicht jene meiner Seele ist. Mein Freizeitticket öffnet die Sperren und gibt mich jedem Lift preis. Fast apokalyptisch erscheint mir die Armada von tonnenschweren Ratracs, die täglich neu die Pisten walzen. Die Konsumwelt der Städte wurde auf die Idalpe gespült, wo sternenförmig in drei Himmelsrichtungen fast ein halbes Dutzend Lifte zusammenkommen, ein verwirrendes Wirrwarr von Sesselliften und Seilbahnen. In einem der Restaurants spielt zur Bespaßung eine Tiroler Blasmusikband Polkas. Man schunkelt und grölt dazu. Partystimmung bereits zur Mittagszeit. Wird innere Leere mit äußerem Lärm zugedröhnt? Sportgeschäfte, Snackbars und Restaurants, Pizzeria und – fast wundert es mich, dass es auf der Idalpe noch kein McDonalds und kein Lidl gibt. Die Stehtische vor den Bars sind Werbeflächen für Red Bull – das passt jedenfalls ins Gesamtbild. Die Sitzflächen der modernen Sessellifte sind geheizt. Auf Förderbänden werden die Ärsche der Menschen darauf geschoben, die sich nicht mehr dagegen wehren können, dass sich die Bügel automatisch schließen. Es ist ein Befördertwerden, dem auch ich mich ergebe, um dann Hänge außerhalb der Pisten zu erkunden. So spiele ich mit, bin Nutznießer und suche mir möglichst abseits des Plattgewalzten meine Spur im frischen Pulver. Der CO-2-Verbrauch eines Skitages in Ischgl, so hat es die Umweltschutzgruppe POW berechnet, entspricht pro Person einer Autofahrt von 40 Kilometer. Das klingt fast tröstend für eine klimabewusste Seele.

Heidelberger Hütte

Zur Heidelberger Hütte (2264 m) wurde die Route über Piz Val Gronda gewählt. Markierungen mit Stöcken geben die 800 HM-Abfahrt vor. Die Berge der Samnaun- und Silvrettagruppe sind frisch verschneit und so noch einmal formschöner. Im weitläufigen Tal liegt die Hütte. Besonders freundlich ist der Hüttenwirt mit seinem Team. Das dreigängige Menü schmeckt ausgezeichnet und als Aufmerksamkeit spendiert uns der Wirt auch einen Zirbeler.

Ischgl

Riesige Hotelkomplexe stehen am Ende der Abfahrt – rund 11 Kilometer und 1200 Höhenmeter von der Bergstation am Pardatschgrat bis nach Ischgl. An diesem Tag staut es sich nirgends, nicht einmal auf den Wegen, in denen flaschenförmig sonst die Massen sich begegnen. Mir erscheint der Ort wie ein menschenfressender Moloch. Nur schnell weg, denkt und fühlt es sich in mir. Ischgl ist einer der Orte mit der höchsten Konzentration an Vier- und Fünfsterne-Hotels gemessen an der Größe und Einwohnerzahl, mit Haubenlokalen – und jenen Apres-Ski-Destinationen wie Kitzloch, die seit dem Winter 2020 als europäischer Kristallisationspunkt für den Ausbruch der Corona-Pandemie gelten. Als ich geboren wurde, gab es in Ischgl noch keinen Lift und und der Ort hatte knapp 400 Einwohner. Inzwischen ist Ischgl eine der reichsten Gemeinden Österreichs geworden. Das riesige mehrstöckige Parkhaus und die neu errichtete Therme erzählen davon. Eine andere Geschichte erzählen die alten Bauernhäuser und Heustadel im engen Paznauntal. Während der Fahrt hinaus durch das frühlingshaft-grüne Tal ist meine Seele noch im Fimbatal und jenen utopischen Andersorten, in denen sich falsche Grenzen lösen, um sich zu begegnen.

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