Eine Blechschlange durch das Stubaital bringt auch den öffentlichen Linienbus im Stau zu stehen. „Die Welt befindet sich am Abgrund …“, konstatierte der UN-Generalsekretär angesichts der neuen Daten über die Erderhitzung. Ein blechern-stählernes Meer hat sich vor den Talstationen der Gletscherbahn breit gemacht. Die High-Tech-Anlagen katapultieren Tausende bis auf 3000 Meter. In so manchen Gesichtern steckt noch die Nervosität, die sich beim Staustehen gebildet hatte. Man ist in großartiger Bergwelt und fährt Rolltreppe, man könnte den Wind hören und hört die stählernen Geräusche der Liftanlagen, man könnte die Berge und den Gletscher riechen, die Nasen sind von den Gerüchen aus den Restaurants besetzt. Wir – eine 15-köpfige Gruppe vom AV Hall – starten mit unseren Skiern beim Gamsgarten (2615 m) weg. Von dort sind es rund 600 Höhenmeter bis zum ersten Gipfel. Hinterer Daunkopf, 3225 m. Es ging zuerst auf das Daunjoch. Ein paar Spitzkehren im steiler werdenden Südrücken und dann steigen wir zu Fuß über rutschiges Geröll und Stapfschnee auf den Gipfel. Der einsetzende Wind lässt die knappe Tour etwas hochalpiner erscheinen. Wunderschön ist dann die Abfahrt über die nordwestlichen Hänge hinunter zur Amberger Hütte. Auf dieser Seite lässt sich noch die Bergwelt fühlen, während auf der anderen Seite der Gletscherschi-Betrieb zu sehr von der Majestät der Berge nimmt. Die Hänge hier sind weit und steil genug, um im Pulver Schwünge zu ziehen. Schon ein gutes Stück vor der Amberger Hütte riecht es nach dem schwefelhältigen Wasser des Sees, der vor der Hütte liegt. Es ist warm genug, um vor der Hütte zu sitzen, in die Sulze der Talebene zu schauen und den Talschluss mit der großartigen Gipfelkulisse. Entschleunigung ist hier angesagt – mit Gesprächen und ausgiebigem Essen serviert von einem sehr freundlichen Hüttenpersonal.
Tag 2: Amberger Hütte (2135 m) Das Wetter hat wie angekündigt eine Wende gemacht. Anfangs schafft es die Sonne noch etwas, milchig-weiß durch die Wolkendecke zu dringen. Als Gruppe sind wir freilich nicht alle so schnell. Das ursprünglich Bergziel – der Gipfel der Kuhscheibe – ersetze ich durch ein noch wichtigeres Ziel und begleite die zweite Gruppe, die dann auf rund 2800 Meter umdreht, so wie sich das Wetter drehte, um dann rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt in Gries zu sein. Während des Gehens dachte ich an ein Kennenlern-Spiel in den Schulklassen und übertrug es auf Erfahrungen, wenn ich mit AV-Gruppen unterwegs bin. Alle in der Klasse schreiben ihren Namen auf einen kleinen Zettel, der dann zusammengeknüllt wird und kunterbunt in den Klassenraum geworfen wird. Als Lehrperson schaue ich, dass nicht mehr erkennbar wird, wo ein bestimmter Namenszettel zu finden ist. Wenn ich nun den Auftrag gebe, dass jeder und jede den eigenen Namenszettel sucht und einen nicht-passenden wieder zerknüllt in die Mitte wirft, dann würde es sehr lange dauern, bis alle ihren Namen haben. Lautet der Auftrag aber, dass alle einfach einen Namenszettel ziehen und diesen dann der passenden Person geben, dann ist dies sofort gelöst. Die Bedeutung ist klar: Wenn in einer Gruppe alle gut aufeinander aufpassen, können alle ihr „Glück“ finden.
Nicht um mich zu loben, sondern um die Geschichte zu verdeutlichen, denke ich an einen Augenblick des heutigen Tages. Im ersten Steilhang hinauf zur Kuhscheibe steckte eine Belgieren fest. Sie hatte sichtlich Schwierigkeiten mit den Spitzkehren. Ihre Gruppe war schon weit vorne, andere gingen vorbei. Jeder weiß, wie schwierig für Ungeübte Spitzkehren im steilen Gelände sind. Ich verlasse die Spur, um zu ihr zu gehen. Dankbar nimmt sie meine Anweisungen an, stellt einen Ski parallel zum Hang, ich gebe ihr etwas Unterstützung bei der folgenden Drehung, je t’aiderai, und so schafft sie die nächsten Spitzkehren hinauf.
Der Schnee auf dem Rodelweg hinaus nach Gries vorbei an der Sulztalalm wird immer weicher. Es beginnt zu regnen. Überschreitungen von einem Tal ins andere sind stets besonders. Am liebsten würde ich gleich weitergehen, hinauf zur Winnebachsee-Hütte und dann weiter …