Palmsonntag und Purimfest
In diesem Jahr 2024 an diesem Sonntag, dem 24. März, fallen zwei Feste zusammen, die miteinander viel zu tun haben, Die Jüdinnen und Juden feiern laut ihrem Kalender das zweitägige Purimfest und für uns Christinnen und Christen beginnt die Heilige Woche mit dem Palmsonntag. Das Volk Israel – so wird es im Buch Esther beschrieben – lebt im Exil in Persien und der jüdischen Bevölkerung droht ein Pogrom durch den persischen König. Als das Estherbuch geschrieben wurde, erlebte zweihundert Jahre später das Volk Israel die Unterdrückung durch die hellenistische Herrschaft. Das ist der Hintergrund des Purimfestes und der Geschichte der Königin Esther. Nochmals 300 Jahre später, zur Zeit Jesu, erlebte das Volk Israel die Terrorherrschaft des römischen Imperiums. Stets gleich blieb die Hoffnung auf ein Ende der Herrschaft fremder Imperien und nach einem messianischen Friedensreich ohne Gewalt und Krieg. Doch wie soll dies geschehen? Wie kann die Diktatur des Xerxes – 500 v. Chr., von Alexander dem „Großen“ – 300 v. Chr. oder von einem Kaiser Augustus oder Tiberius ein Ende finden? Da treten – so die Estherrolle – die jüdische Frau Esther und ihr Onkel Mordechai auf. Beide waren sie Deportierte im persischen Großreich und erreichen es mit unbeugsamer Widerstandskraft und Vernunft, dass das Pogrom an ihrem Volk nicht vollzogen wird. Und Jesus wählt die gewaltfreie Strategie einer paradoxen Intervention und reitet als der erwartete Messias mit einem Esel in die Stadt Jerusalem ein.
Bedrohungssituation für das jüdische Volk
Die Pogrome gegen das jüdische Volk und den antijüdischen Terror haben nicht die militanten Hamas-Krieger erfunden. Die hebräische Bibel ist voller Geschichten, die vom Leid des jüdischen Volkes erzählen, das wieder und wieder sein Land verloren hat, das verschleppt und dessen Existenzrecht infrage gestellt wurde. Heute, mehr als 2000 Jahre später, in den Tagen, in denen der Staat Israel weiterhin traumatisiert ist aufgrund der abscheulichen Terrorattentate der Hamas im Oktober 2023, in den nun schon vielen Monaten, in denen Hunderttausende Opfer von Vergeltungsschlägen des israelischen Staates sind, in einer Zeit, in der weiterhin mehr als 100 Menschen als Geiseln gehalten werden, in diesen Tagen feiert das Judentum das Purim-Fest. Es ist das fröhlichste der sieben Hauptfeste im jüdischen Kalender und hat als Grundlage das kleine biblische Buch Esther.
Esther im biblischen Kanon
In der hebräischen Bibel zählt dieses Buch zu den Schriftrollen (Megillot), die wie das Buch Rut, Hohes Lied, Kohelet und Klagelieder zu bestimmten Festtagen gelesen werden. Das Buch Esther zählt zu den Weisheitserzählungen. Die Estherrolle ist im 3. Jahrhundert v. Chr. in der jüdischen Diaspora entstanden. Das Volk Israel war im Exil und unter Fremdherrschaft. Die Handlung, von der es erzählt, war allerdings zur Zeit der Perserherrschaft unter Xerxes I.
Skizzen der Esther-Geschichte
Ort der Handlung ist Susa, die persische Hauptstadt. Der Jude Mordechai lebt dort im Exil. Er erfährt von einem Anschlag auf den persischen König Achaschverov. Dieser soll vergiftet werden. Mordechai warnt den König. Die Attentäter werden verhaftet. Mordechai soll belohnt werden. Haman war der Auftraggeber für das Attentat, doch bleibt es verborgen. Esther – die Nichte von Mordechai – also auch eine Jüdin – wird als Königin ausersehen. Haman wird zum wichtigsten Minister ernannt. Er führt ein gewalttätiges Regime. Mordechai widersetzt sich dieser Herrschaft. Haman möchte nun Mordechai und mit ihm alle Juden und Jüdinnen töten lassen und klagt sie des Aufruhrs an. Der König stimmt zu, dass sie getötet werden. Esther erfährt von diesem Plan durch Mordechai. Sie sollte eigentlich nicht zum König gehen. Das wäre Gehorsamsverweigerung, worauf die Todesstrafe steht. Esther tut es jedoch trotzdem. Der König hört ihr zu und geht auf ihren Plan ein, gemeinsam mit Mordechai zu einem Essen zu kommen. Der König erinnert sich an Mordechai, der ihm das Leben gerettet hatte. Er möchte ihm nun seine Dankbarkeit erweisen. Er soll auf einem königlichen Pferd und in purpurnem Gewand in die Stadt reiten. Der König und Haman sind beim Essen bei Esther. Aus Dankbarkeit verspricht ihr der König, alles zu geben, was sie sich wünscht. Esther erzählt dann, dass sie selbst Jüdin sei und ihr Leben wie das Leben des ganzen jüdischen Volkes wegen Haman in Gefahr sei. Darauf wird Haman bestraft und Mordechai wird zum Minister ernannt. Das jüdische Volk wird vor dem Genozid gerettet.
Widerstand gegen patriarchale Gewalt und Sexismus
Hinter dieser einfachen Geschichte gibt es auch Erzählfäden, die sich für eine kinder- und jugendtaugliche Wiedergabe nicht eignen. Bevor Esther in den Mittelpunkt rückt, wird im ersten Kapitel folgende Situation geschildert. Der persische König regiert autokratisch auf seinem Thron und lässt sich opulent feiern. Als ein Teil dieser Feier soll sich seine Frau, die schöne Königin Waschti, vor den versammelten Männern entblößen. Da heißt es: „Aber die Königin Waschti weigerte sich.“ Sie beweist ihre Widerständigkeit und Eigenständigkeit gegen den König. Der weibliche Widerstand soll – so die mächtigen Männer – aber gebrochen werden. Ein weiterer Aspekt der Männergewalt wird sichtbar, als der König anordnet, die schönen Mädchen einzufangen, um unter ihnen eine neue Königin zu finden. Es soll eine Art „Persia’s Next Topmodel“ stattfinden, wobei die Frauen dies freilich nicht freiwillig machen. Esther wird dann ausgewählt und in gewisser Weise zur Anpassung gezwungen. Allmählich aber gelingt es ihr, zwar nicht mit jener Klarheit wie Waschti, die herrschaftlichen Gewaltverhältnisse zu durchbrechen, wodurch sie zur Befreierin ihres Volkes wird.
Bleibende Aspekte dieser Geschichte
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist geprägt von Verfolgung bis hin zu Pogromen und dem Genozid in der Schreckenszeit des Nationalsozialismus. In dieser Geschichte gab es stets zugleich Männer und Frauen, die sich wie Mordechai nicht untergeordnet haben, sondern bereit zum Widerstand waren. Es gab auch jene Frauen, die als Tricksterinnen bezeichnet werden können, weil sie mit Klugheit und List ihr Volk vor Gewalttaten gerettet und in Befreiung geführt haben. Dafür stehen beispielsweise die Hebammen Schiphra und Pua am Beginn der Exoduserzählung, Mirjam, die dem Volk Israel beim Auszug aus Ägypten voranging, Tamar, die sich nicht mit einer Opferrolle abfand, Ruth, die Brücken zwischen den Ethnien baute – und eben auch Esther.
Die Esther-Storie ermutigt, wie Mordechai nicht den ungerechten Machthabern Gehorsam zu leisten, sondern Rückgrat zu zeigen, wenn andere gebeugt werden sollen. Mordechai ist wie Hans Scholl, Willi Graf oder Christoph Probst oder wie Alexej Nawalni, die aufgestanden sind gegen das diktatorische Regime. Esther ist wie Sophie Scholl. Sie waren bereit, in einer aussichtslosen Lage ihr Leben für andere hinzugeben
Kritische Distanz gegenüber gewaltbesetzten Rachegefühlen und Vergeltungsphantasien
Das Ende der Esther-Geschichte braucht zugleich eine kritische Distanzierung. Laut Geschichte, landet Haman am Galgen, den er für Mordechai vorgesehen hatte. Tausende Perser werden hingerichtet.
Die Jesusgeschichte und die gewaltfreie Intervention am Palmsonntag zeigen uns aber den gewaltfreien Faden, der sich durch alle biblischen Bücher zieht. Rache ist nicht die Handschrift Gottes. Gott ist Barmherzigkeit. In diesem Sinne müssen wir uns im Kopf von Gewaltphantasien befreien. Es wäre schön, wenn Haman Gelegenheit zu Umkehr gegeben würde. Wir bräuchten jene Geschichten, die nicht mit Sieg-Niederlage, sondern mit Versöhnung enden. Weiters gilt: Nie soll es darum gehen, in den Kategorien von Gut und Böse zu operieren, weil solcher Antagonismus automatisch in eine kämpferisch-destruktive Haltung führen könnte. Böses, so kann weiters heute gesehen werden, also das, was in der Esther-Geschichte als „Haman“ typisiert wird, kann in jedem von uns selbst liegen. Dann gilt es die Frage zu stellen: Wie kann ich selbst das Haman in mir nicht groß werden lassen? Haman sind die Untaten der Herrscher unserer Zeit. Haman ist der Terror fanatisierter Gruppen. Hamam ist …
Mit der Purimrassel den Antisemitismus vertreiben
Beim Purimfest werden kräftig Rasseln verwendet. Mit dem Lärm soll das Böse vertrieben werden. Während der Lesung aus dem Buch Esther darf man beim Wort „Haman“ die Lärminstrumente einsetzen und den Baal Kore, den Tora-Leser, übertönen. Neben dem wirkungsvollen Einsatz des Raschan – hebräisch für Rassel – darf getrampelt werden, zuweilen mit Schuhen, auf deren Sohle das Wort „Haman“ geschrieben ist; in manchen Gemeinden wird mit Topfdeckeln geschlagen, Steine werden aneinander geklopft, Ziegelsteine mit dem Wort „Haman“ werden solange aneinander gerieben, bis der Name verschwunden ist. In diesem Ritual geht es darum, dass die Taten des Feindes nicht weiterhin wirksam sein mögen. Daher können sich Jüdinnen und Juden freuen, dass sie gerettet wurden. Sie verkleiden sich wie zu einem fröhlichen Fest. Es wird gesungen und getanzt.
Heute mögen auch in unserem Land die Rasseln laut erklingen, damit Antisemitismus und Antijudaismus nie mehr sein mögen, damit Gewalt nicht mit noch mehr Gewalt bekämpft wird und so die Kreisläufe der Gewalt stets sich weiterdrehen. Das gleichzeitige Palmsonntagsfest erinnert daran, wie Auswege aus Krieg und Gewalt beschritten werden können: Mit einem Esel, der symbolisch für die Kraft der Gewaltfreiheit steht, und auf dem Jesus als Messias in die Stadt Jerusalem reitet.
Klaus Heidegger, zum Purimfest, 24. März 2024