Gnadenhaftigkeit inmitten von Erbsündenhaftigkeit: Zum Fest Mariä Verkündigung

Der 25. März und der Beginn einer Schwangerschaft

Das Datum, der 25. März, erinnert daran: In 9 Monaten wird Weihnachten sein. Da die Geburt Jesu biologisch gesehen kein medizinisches Wunder ist, ist 9 Monate davor eben das Ereignis, in dem seine Mama Mirjam aus Nazareth schwanger wird.

Textkritische Annäherung an die lukanische Verkündigungsgeschichte

Kaum eine Stelle im Evangelium ist so bedeutsam und zugleich so voller Fragen und birgt so viel Potenzial für Widerspruch und Missverständnisse wie die Verkündigungsszene aus der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums. Wie wurde Maria schwanger? Was bedeutet das Dogma der Jungfräulichkeit in diesem Kontext?

Eine erste Hilfe, um sich mit Logik, Vernunft und zugleich Lebenserfahrung dieser Stelle zu nähern, ist eine exegetische Textkritik. Die Kindheitsgeschichte bei Lukas will kein historischer Bericht sein, sondern ist eine mythisch-legendarische Glaubensgeschichte mit einem besonderen historischen Kern, der in Bilder und Symbole verpackt ist und mit Codes versehen wurde, die es zu entschlüsseln gilt.

Sozialhistorische Verankerung

Historisch ist die Tatsache, dass Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern eine Bewegung ausgelöst hat, in der begreifbar wurde, wie das im Judentum erwartete messianische Reich funktionieren könnte: Indem die Armen und Verarmten in den Mittelpunkt gestellt werden und ein großes Teilen beginnt, indem die Kranken durch menschliche Nähe Heilung erfahren, indem Feinde nicht mehr bekämpft, sondern zu Freunden gemacht werden, indem den Mächten der Gewalt widerstanden wird und auf göttliche Kraft gesetzt wird. All dies wurde nach dem Tod und in der Zeit der Abfassung der Evangelien im Urchristentum erfahren. Diese Erfahrung wiederum wird gekleidet in Bilder und Symbole, die in der damaligen religiösen und politischen Sprache gängig waren.

Maria und ihre Jungfräulichkeit

Nur wenn wir die Bezeichnung „Jungfrau Maria“ in einem biologischen Sinne missverstünden und damit die theologische Bedeutsamkeit von diesem Mythos nicht erkennen würden, hätten wir Probleme damit, dem Josef und der Maria auch weitere Kinder zuzugestehen. Dann wären wir verleitet, dem leib-, eros- und sexualfeindlichen Trend zu folgen, Maria als „reine Magd“ zu sehen und diese „Reinheit“ als biologische Jungfräulichkeit zu definieren. Dann aber folgten wir dem apokryphen Narrativ, uns Josef als alten Mann vorzustellen, der aus einer früheren Ehe schon Kinder mit in die neue Beziehung mit Maria gebracht habe. Nichts von dem aber steht in den Evangelien. Es scheint, dass sich gerade mit Blick auf die Familiengeschichte Jesu das apokryphe Jakobusevangelium, das das Narrativ vom alten Josef erfunden hat, weiterhin mehr im Volksglauben festgemacht hat, als eine von Leibfeindlichkeit befreite historisch-kritische Exegese der Evangelien, die gerade in Bezug auf die ersten Lebensjahre Jesu und die Kindheitsgeschichten selbst schon wieder theologisch verpackte und gefärbte Historie sind.

Die Auslegungstradition, Maria in ihrer biologischen Jungfräulichkeit zu konstruieren, ist lange. Da sind die einen, die die Worte Marias in der Verkündigungsszene „wie soll dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne“ in einer Weise interpretieren, dass Maria immer schon biologisch-jungfräulich leben wollte. Dies würde jedenfalls ideal zur gnostisch-manichäischen Leibfeindlichkeit passen, wohl nicht aber zur hohen Wertschätzung einer ganzheitlichen jüdischen Ehe. Eine bewusst gewählte Ehelosigkeit als Lebensform war im Judentum keine religiöse Lebensform.

Eine andere Interpretation deutet die Jungfräulichkeit – auch in ihrer sexuellen Dimension – als Art und Weise, wie sich Maria so ganz für die Hingabe an Gott entschieden hätte. Das entspricht jener Denkrichtung, die auch zu Begründungen für das Zölibat führt.

Mit Blick auf die Erfahrungen von liebender Partnerschaft, auf die wechselseitigen ganzheitlichen Erfahrungen in auch sexuell und erotisch gelebten stärkenden Beziehungen – können wir heute wohl zuerst formulieren, was „Hingabe an Gott“ bedeutet: Wo sich zwei Menschen in Liebe und gegenseitiger Hingabe – verstanden als Dienst – begegnen, dort geschieht gerade auch die Hingabe an Gott, wenn dieses Göttliche nicht mehr in eine fern-jenseitige Himmelswelt projiziert und transzendiert wird.

Der uralte Mythos vom Gottessohn

Der Mythos von der Geburt eines Gottessohnes aus einer Jungfrau war besonders im religiösen Umfeld zur Zeit der Abfassung der Evangelien geläufig. Römische Kaiser – unter anderem Kaiser Augustus – sollen unter jungfräulichen Bedingungen geboren worden sein. Dasselbe wurde auch bei ägyptischen Pharaonen gesagt. Wenn nun in den Evangelien von „Jungfrau“ gesprochen wird, dann wollen sie sagen: Dieser Jesus ist Gottes Sohn. Die Jungfrauschaft Marias verweist auf Jesus. Mit anderen Worten: Maria ist so bedeutsam, weil dies Jesus war.

Darin liegt zugleich eine radikale Herrschaftskritik: Nicht der mächtige Kaiser Augustus ist der legitime Herrscher und Beherrscher der Welt, sondern der messianische Neubeginn liegt in Jesus und seiner Bewegung. Daher beginnt die legendarische Geburtsgeschichte Jesu auch mit den Einleitungsworten „In der Zeit, als Kaiser Augustus …“.

Jesus und seine „Geschwister“

Nicht weil es zunächst in der Bibel steht, sondern weil es menschlich-physisch-psychologisch und soziokulturell-historisch sowie religiös-theologisch begründbar ist, dürfen wir uns vorstellen, dass Maria und Josef als typisches jüdisches Paar, die sich liebten, die sich wertschätzten, die füreinander Sorge trugen, auch noch mehrere Kinder gemeinsam gehabt haben könnten. Es sei hier als Möglichkeit in den Raum gestellt, nicht aber als apodiktische Behauptung. So ist es nicht verwunderlich, wenn sowohl im Markusevangelium (Mk 6,3) als auch im Matthäusevangelium (Mt 13,55f) Jakobus, Joseph, Judas und Simon als Brüder Jesu namentlich genannt und weitere Schwestern erwähnt werden. Natürlich könnte auch argumentiert werden, dass im Orient der Gebrauch von „adelphoi“ (Brüder) sich auch auf Cousins oder andere Verwandte beziehen könnte.

Jungfräulichkeit als Mythos und nicht als biologisches Konstrukt

Wenn wir es also wagen, uns Josef als jungen Mann vorzustellen, der Maria liebte, und nicht im Stande des Konstrukts einer „Josefsehe“, in der es keine geschlechtliche Liebe gibt, dann beginnen wir Sexualität als Geschenk des Göttlichen integral zu sehen und dies auch mit dem Leben und der Botschaft Jesu in Verbindung zu bringen. Wenn wir uns Josef als knapp Zwanzigjährigen, nicht aber als Siebzigjährigen vorstellen, dann müssen wir nicht herumtüfteln, ob die im Evangelium genannten Brüder nun Cousins von Jesus waren oder Brüder in einem geistigen Sinne oder eben Halbbrüder Jesu aus einer vorherigen Ehe des Josef.

Mir ist ein anderer Blickwinkel entscheidend. Vielleicht hat Jesus gerade von Josef und seiner Mutter Maria und in deren ganzheitlicher Verbindung gelernt und erfahren, was Liebe ist – und daher auch, was göttliche Gegenwärtigkeit bedeutet. So kann der Mann Josef in seiner ganzen Männlichkeit, aus der die Sexualität nicht weggedacht wird, als Liebhaber, als zärtlicher Vater und starker Rebell, als Erzieher seiner Kinder, als Flüchtling und gesetzestreuer Jude ganz neue Bedeutung gerade für Männer und Burschen bekommen. Er wird zum Patron für Verliebte wie für Ehemänner bei ihrem Versuch, in ihren zärtlichen Beziehungen und Partnerschaften ein Stück des Himmels zu erfahren und zu leben. Vielleicht freilich eignet sich Josef dann weniger als Identifikationsfigur für zölibatär lebende Männer, die zu sehr das Lehramt der Kirche in den vergangenen Jahrhunderten prägten.

Vier Dogmen über Maria

Im Laufe des Kirchenjahres gibt es in der katholischen Kirche die vier großen Marienfeste, die jeweils eine andere Lehraussage beinhalten, die doch wieder aufeinander bezogen sind: am 1. Jänner wird Maria als „Mutter Gottes“ gefeiert. Am 25. März die Verkündigung. Maria als „Jungfrau“. Am 15. August die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel. Am 8. Dezember das Fest der „unbefleckten Empfängnis Marias“, also die Glaubensaussage, wie Anna, die Mutter Marias, schwanger wird und damit ein radikaler Neubeginn geschehen kann.

Unbefleckt Empfangene

Auch das Hochfest der „unbefleckt empfangenen Jungfrau und Gottes Mutter Maria“ will keine biologische Ansage sein. Wenn Maria als „unbefleckt Empfangene“ verehrt wird, dann bedeutet dies, dass mit ihrem Engagement und ihrer Liebe und mit Josef an ihrer Seite eine andere Welt möglich gemacht wurde, dass wir mit Gottes Hilfe ausbrechen können aus den teuflischen Spiralen, dass wir uns befreien können von den Zwängen, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten ist, dass Feindschaft mit Vergebung und Versöhnung aufgelöst werden kann.

Leiblich in den Himmel aufgenommen

Der Begriff Leib weist uns auf die Einheit von Körper – Seele – Geist hin, weil Leib immer mehr besagt als eine körperlich-materielle Seite. Alle drei Dimensionen des Personseins werden in ihrer Bezogenheit aufeinander angesprochen. Im Dogma von der leiblichen Aufnahme hat die katholische Kirche damit dem Leiblichen – und eben damit auch dem Körperlichen – eine hohe Wertigkeit zugesprochen. Das ist ein so notwendiger Kontrapunkt zu den Jahrhunderten von körper-, leib- und erosfeindlichen Positionen, die sich durch bestimmte griechisch-römische Philosophien in der Lehre und Praxis der Kirchen breit gemacht hatten. Der ganze Leib – damit auch der Körper und wesentlich damit auch die Sexualität – wird in ein himmlisches Heilsgeschehen mithineingenommen.

Als in den Himmel Aufgenommene öffnet Maria den Blick in die Himmel, ohne diese Welt zu vergessen. Das Aufgenommen-in-den-Himmel lenkt nicht ab vom Irdischen, sondern lässt die Himmel im Hier und Heute erkennen, lässt danach sehnen, dass ein Stück des Himmels auch lebendig wird, wo ich lebe. Mit Haut und Haaren – so heißt es im Dogma – mit der ganzen Leiblichkeit. Zu Maria passt kein manichäisches Trennen von Geist und Leib, kein gnostisches Verachten all dessen, was mit Körper verbunden ist. Das Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel ist daher auch eine Ansage gegen leibfeindliche Interpretationen der anderen Mariendogmen und taugt als politisches Programm gegen all die Vertröstungen und Weltflüchte.

Befreiter Eros

Mag sein, dass meine Positionierung etwas deutlicher ausfällt, weil ich so oft in Alltagsgesprächen und davor als Religionslehrer mit den Vorurteilen konfrontiert wurde, die katholische Kirche sei gegen Sexualität und würde die erotischen Kräfte verteufeln. In regelmäßigen Abständen wird diese Sichtweise durch Meldungen leider auch bekräftigt. Da denke ich an die Verrenkungen, die sich rund um die kirchlichen Positionierungen zur Homosexualität geschehen. Um es mit einem Wort von Martin Lintner zu sagen: Es ist in vielerlei Hinsicht notwendig, dass in kirchlicher Verkündigung der Eros „entgiftet“ wird und vielmehr auch als Geschenk des Göttlichen begriffen werden kann: auch am Fest Mariä Verkündigung.

Klaus Heidegger, zum Hochfest Mariä Verkündigung, 25.3.2024



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