Sonntäglicher Ausflug in Geschichte und zurück in die Gegenwart. Ich besuche den „neuen Pfarrer“ von Fließ. „Neu“ muss ich ihn wohl nennen, weil die Bezeichnung „alter …“ in diesem Dorf reserviert ist für eine ganz spezifische Priesterpersönlichkeit aus der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts. Fließ liegt nur ein paar Habichtflügelschläge von jenem Dorf entfernt, das mir von Geburt an bis zum 11. Lebensjahr Heimat war. Damals aber, im Zeitalter der Babyboomer, war mein Heimatdorf Prutz von den Nachbarortschaften zugleich weit entfernt. Das wahre Heimatliche wurde bestimmt durch die Gemeindegrenzen. Jemand aus Fließ war also fast wie ein Ausländer. Dennoch wusste ich als Paradeministrant und volkskirchlich bestens katholisch frühkindlich sozialisiert, dass da in Fließ ein gutes Jahrhundert zuvor ein besonders heiligmäßiger Pfarrer gewirkt haben soll, von dem selbst viele Jahre später nur mit Ehrfurcht geredet wurde. Im stets prall gefüllten Bücherregal meiner Mutter stand auch ein Buch, auf dessem grünen Einband mit merkwürdig alter Schrift stand: „Der alte Fließer Pfarrer“. Seine Biographie liest sich wie einer der Heiligenromane, mit denen ich im Volksschulalter meine Berufung finden sollte: Geschichten von Pfarrern, Missionaren, Bischöfen – bis hin zu den Vita von Päpsten. Gemeinsam war diesen Büchern ein fest geschlossenes katholisches Weltbild mit all dem Nimbus, mit dem sich eine vorkonziliare Kirche damals umgab.
Meine Schwester hat als Historikerin lange über die Zeit der ersten Hälfte es 19. Jahrhunderts in Tirol geforscht und aus der Tiefe von Archiven auch über den Pfarrer Alois Maaß einiges zu Tage gebracht, das aus heutiger Sicht mit Fragezeichen versehen werden könnte und der von manchen propagierten Seligsprechung nicht so dienlich wäre. Da ist auf der einen Seite ein einfacher Dorfpfarrer, der sich vor allem auch der psychisch Kranken seiner Zeit angenommen hat. Während seines 40-jährigen Wirkens in Fließ war sein großzügiger Widum fast wie eine Außenstelle einer psychiatrischen Krankenanstalt. Die Heilmethoden von Pfarrer Maaß hatten freilich herzlich wenig mit dem zu tun, was damals schon Standard war in der psychiatrischen Heilung von Geisteskrankheiten war. Der Dorfpfarrer setzte auf die Kraft wundersamer Heilmethoden und soll selbst exorzistische Praktiken betrieben haben. Was damals im Geiste der Aufklärung an vernunftgesteuerter Medizin bekannt war, war sicherlich des Dorfpfarrers Zugang nicht. Im Gegenteil.
Mit solchen Gedanken streife ich durch Fließ. Bei der für ein so kleines Dorf überdimensionierten Barbarakirche mit ihren weithin sichtbaren stolzen Doppeltürmen beginnt der Maaßweg. Die paar Stationen sind einfach gestaltet und wollen gar nicht einen künstlerischen Anspruch vermitteln. Wohl eher etwas plump. Die Natur rundherum entschädigt aber. Blicke hinunter in den Talkessel, der vom aufgestauten Inn beherrscht wird. Auf der nördlichen Seite sind die Gipfel der Lechtaler und auf Fließer Seite beginnt der Kaunergrat. Besonders sind die Trockenrasen-Flächen mit einzigartiger Flora zwischen den Felsbrocken. Kein Wunder, dass Pfarrer Fließ für seine Kräutermedizin hier wohl mehr als ausreichend Material vorfand. Solches Vertrauen in Naturheilkräfte macht ihn zugleich auch wieder etwas sympathisch.
Klaus Heidegger, 7. 5. 2024