Wie kann Frieden entstehen in einem Land, das von Krieg und Terror beherrscht wird? Wie kann die Gewalteskalation gestoppt werden und die Furcht, vernichtet und ausgelöscht zu werden, enden? Seit ich politisch denken und handeln gelernt habe und mich die Fragen des Friedens besonders beschäftigen, bin ich dran an diesen Themen, ohne mich aber als jemand aufspielen zu wollen, der die Lage wirklich begreifen könnte. Es wäre anmaßend, von meinem privilegierten Hafen der Sicherheit Vorschläge zu machen. Deswegen höre ich hin auf jene Stimmen von Betroffenen, die wirklich den Frieden wollen, und auf die Wissenschaft, die immer wieder neu praktikable Vorgaben gibt.
Als Student schon bewegte mich das Schicksal des palästinensischen Volkes und zu meinen Kleidungsstücken zählte das Palästinensertuch, das ich als Ausdruck meiner Solidarität in den kalten Jahreszeiten um den Hals wickelte, um damit zur Uni zu radeln. Eines meiner Lieblingsfächer war gleich im ersten Semester Hebräisch, da ich die Sprache des jüdischen Volkes und damit auch der Hebräischen Bibel besser verstehen wollte. Jemand der Alt-Hebräisch lernte und die Kufija trug – es war damals kein Widerspruch. Heute würde ich mit diesem Kleidungsstück als „antisemitisch“ oder „antijüdisch“ oder „antiisraelisch“ bezeichnet werden. Als solches wurde es in den Berliner Schulen kürzlich verboten.
Damals schon war ich stolz auf die Nahostpolitik Österreichs und den Langzeitbundeskanzler Bruno Kreisky, der gerade aufgrund seines jüdischen Hintergrundes Verständnis für die Anliegen von Yasser Arafat und seiner PLO zeigte und damit auf internationaler Ebene Wege des Dialogs und eine Abkehr von terroristischer Gewalt bewirken konnte. Aktive Neutralität wurde in bestem Sinne realisiert. Der Blick auf gestern würde zeigen, was heute sein könnte.
Die österreichische Außenpolitik hat sich davon in den Folgejahren weit entfernt. Als ich 1991 an der Bir Zeit University in Ramallah Soziologiekurse besuchte, waren etwas mehr als 100.000 Siedler im besetzten Westjordanland. Heute, 30 Jahre später, sind es 750.000 und es werden jeden Tag mehr. Die Naqba hält an. Der Landraub hält an. Mit den Verhandlungen in Oslo zwischen der Führung der PLO und Vertretern des israelischen Staates und maßgeblich vermittelt durch norwegische Diplomaten wurde vor 30 Jahren ein Friedensweg aufgezeigt. Die palästinensische Seite hat in den Osloer Verträgen das Existenzrecht Israels anerkannt und Israel versprach weitgehende Autonomieregelungen und ein Ende der Siedlungspolitik. Das Modell einer Zweistaatenlösung war greifbar. Jitzchak Rabin und Yasser Arafat erhielten den Friedensnobelpreis. Frieden schien möglich. Doch Rabin wurde 1995 ermordet. Monatelang wurde gegen ihn von den rechtskonservativ-fundamentalistischen Kreisen gehetzt. Aus diesen Reihen kam dann auch der Mörder. In den Reihen der Rabin-Gegner war damals auch ein Mann, Benjamin Netanjahu, der heute einen Vernichtungskrieg in Gaza anführt.
Ich kann mich an meine Wut erinnern und hatte Tränen in den Augen, als ich vom Tod von Rabin hörte. Seine Worte, die er auf einer Friedensdemonstration unmittelbar vor seiner Ermordung sprach, mögen unvergesslich bleiben:
„Ich möchte gerne jedem Einzelnen von euch danken, der heute hierher gekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung, der ich gemeinsam mit meinem Freund Shimon Peres das Privileg habe vorzustehen, hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. […] Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.“
Einstaaten-Lösung und Konföderation
Anfang Mai 2024 hat der Philosoph Omri Boehm in Zusammenhang mit seiner „Rede an Europa“ auf dem Judenplatz in Wien erneut ein anderes Modell für den Frieden in Palästina und Israel vorgeschlagen. Eine Zwei-Staaten-Lösung sieht er nicht mehr als realistisch an. Sie würde den Fakten widersprechen, die längst geschaffen sind. Was wäre dann nämlich mit den 750.000 Siedlern im Westjordanland? Was wäre mit arabischen Bevölkerung auf israelischem Staatsgebiet, die rund 20 Prozent der Bevölkerung Israels ausmachen? Boehm wünscht sich für sie nicht weiterhin eine Tolerierung als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse, die in einem Staat, der sich als „jüdisch“ definiert, doch letztlich zweitklassig wären. In diesem Zusammenhang spricht Boehm von „Apartheid“. Die Zukunftsvision von Boehm, der selbst Jude ist und lange in Israel lebte und dort auch als junger Mann in der Armee diente, ist ein gemeinsamer Staat für Juden und Palästinenser, ein binationales Israel auf der Grundlage eines föderalen Prinzips beider Völker. Boehm geht in seinem Konzept vom Prinzip des Universalismus der Aufklärung aus und setzt bei Kant an und der gleichen Würde aller Menschen. Für Omri Boehm ist klar, dass es eine Zweistaaten-Lösung nicht mehr geben kann. Mehr noch aber widerspricht sie dem kantschen Geist des Universalismus.
Auch von palästinensischer Seite wird vielfach eine Ein-Staaten-Lösung als Vision genannt, die realistisch sein könnte. Diana Buttu, eine in Kanada und den USA lehrende Palästinenserin und ehemalige Sprecherin der PLO, die beteiligt war am Zustandekommen der Osloer-Verträge, spricht längst schon nicht mehr von einer Zwei-Staaten-Lösung, sondern von einer Ein-Staaten-Realität. Diese Option vertritt beispielsweise auch die Palästina-Expertin Helga Baumgarten.
Seit mehr als 50 Jahren wird von einer Zwei-Staaten-Lösung gesprochen. In diesen Jahrzehnten sind mehr und mehr Siedlungen gebaut worden, ist Jerusalem gegen internationales Völkerrecht zur Hauptstadt Israels erklärt worden. Wenn heute weltweit Studierende auf diese Ungerechtigkeiten aufmerksam machen, dann ist diese Kritik nicht antiisraelisch oder antijüdisch. Mit Blick auf die Realpolitik der Regierung Netanjahus in den letzten Jahren sowie die Mehrheit der rechtsnationalen Abgeordneten in der Knesseth von einer Apartheidpolitik zu sprechen, wie es Diana Buttu oder Omri Boehm tun, ist weder antizionistisch noch antijüdisch, sondern hat mit der Achtung grundlegender Menschenrechte zu tun.
All diese Kontextualisierung rechtfertigt freilich in keinster Weise die abscheulichen Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober 2023. Der terroristische Arm der Hamas muss seine Unterstützung und damit seine Macht verlieren.
Waffenruhe jetzt!
Um überhaupt aber Raum und Zeit zu finden für dauerhafte friedliche Lösungen, bräuchte es jetzt: sofortiger Waffenstillstand! Verhandlungen auf diplomatischer Ebene. Keine Waffenlieferungen! Die Geschichte zeigt, dass Wege des Friedens gewählt werden können. Das Oslo-Abkommen und das Händeschütteln von Rabin und Arafat sind keine Chimäre. Mögen ihre Gedanken auferstehen. Nur Wege des Dialogs, der Achtung von Menschenrechten und der Vermeidung jedweder Gewalt können zum Frieden führen.
Klaus Heidegger, 10.5.2024
(Bild:Banksy)
Lieber Klaus, es ist wichtig, über unterschiedliche Modelle zu diskutieren. Eines muss aber zentral bleiben: Antisemitismus ist leider ein Faktum, und Jüd*innen sind weltweit mal mehr und mal weniger unter Druck (das trifft auf Palästinenser*innen nicht zu). Der jüdische Staat, ein demokratischer Staat, der als jüdisch definiert ist, ist eine Lebensversicherung, die niemals aufgegeben werden darf. Das kann die Ein-Staaten-Lösung nicht gewährleisten. Lg! Katharina
Ein jüdischer Staat in der Art der jetzigen Regierung mit so viel geschütztem Unrecht gegen angestammte Bevölkerung kann auf Dauer nicht bestehen.
Hoffnung macht die Opposition in Israel. Eine föderative Lösung unter Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts mit internationaler Garantie des Lebensraums für angestammte und neue Bewohner erscheint mir auch als einzig mögliche Lösung.
Alois