Eine historisch-kritische und materialistische Exegese der biblischen Pfingsttexte und ihre Anwendung auf das Hier und Heute (Apostelgeschichte 2,1-11 und Johannes 20,19-33).
Das Pfingstwunder in der Bibel
Unglaubliches, Unfassbares ist geschehen. In der Hauptstadt Judäas. In Jerusalem. Zur Zeit der Weltherrschaft des Kaisers Tiberius, etwas mehr als 50 Tage, nachdem Jesus von Nazareth als Rebell und Aufrührer auf grausame Weise hingerichtet worden war, 50 Tage, so die symbolisch-verdichtete Zeitangabe im Neuen Testament, nachdem Christus erstmals seinen Jüngerinnen und Jüngern als Auferstandener begegnet war. Was ist geschehen?
Als Verfasser der bekanntesten und ausführlichsten biblischen Pfingstgeschichte gilt der Evangelist Lukas, der in der Tradition als „Arzt“ bezeichnet wurde. Er ist ein Autor, der vor allem die Frauen im Umfeld Jesu ins Bild gebracht hatte. Die Textkritik sieht hinter Lukas eine Gemeinde, in der Frauen wesentlich aktiv waren. Sie hatten erlebt, dass das Beispiel Jesu seit seinem Tod und seiner Auferstehung heilsam wirksam geblieben ist. Deswegen schreibt „der Lukas“ nicht nur ein Evangelium, sondern eine Fortsetzung namens Apostelgeschichte, in der wir das bekannte Pfingstwunder nachlesen können.
Immer noch geschockt von den Ereignissen sitzen die Personen, die in der griechischen Sprache des Neuen Testaments „mathetoi“, nämlich Lernende, genannt werden, hinter verschlossenen Türen zusammen. Sie wissen, weil sie es selbst erfahren haben: Jesus ist auferstanden. Jesus ist ihnen auch schon erschienen. Auferstanden in ihren Köpfen und Herzen, in ihrem gemeinsamen Mahlhalten, im Einstehen füreinander. Ihre Angst ist damit nicht gewichen. Der Schock über Jesu Hinrichtung sitzt ihnen tief in den Knochen. Die Exekution war von äußerster Brutalität, typisch für die römischen Besatzungstruppen, die das Land mit solchen Maßnahmen unter Kontrolle hielten. Abertausende sind von den römischen Soldaten gekreuzigt worden; jüdische Mädchen und Frauen sind missbraucht oder als Sklavinnen verkauft worden. Jene, die mit Jesus gezogen sind, waren auch am Tag des jüdischen Erntedankfestes, das zur religiösen Grundlage des christlichen Pfingstfestes wurde, höchst gefährdet.
Da hocken sie nun in einem armseligen Haus in Jerusalem zusammen. Wir kennen einige ihrer Namen. Es sind durchwegs Leute der Unterschicht. Da ist Bartimäus. Als blinder Bettler hatte ihn Jesus in die Nachfolge berufen. Weit unter dem Existenzminimum hatte er gelebt. Ein Marginalisierter. Da sind der Bruder von Jesus, Jakobus, sowie die Söhne des Zebedäus, und natürlich Petrus und Andreas, ehemals Fischer aus dem Norden des Landes. Und natürlich sind da auch die Frauen, die Galiläerin Maria von Magdala, eine besondere Gefährtin von Jesus, und da sind Maria und Martha aus Betanien, Maria, die Mutter Jesu, und noch viele andere. Sie alle waren ohne Sozialprestige, ohne gesellschaftliches Ansehen, ohne materielle Sicherheiten. Sie kannten die Not in Palästina aus eigener Erfahrung und als Betroffene. Sie wussten von der groben Ungerechtigkeit. Die Botschaft ihres Meisters öffnete ihnen die Augen, um die Ausbeutungsverhältnisse zu durchschauen. Sie träumten zugleich von einem messianischen Gottesreich, in dem – wie es Maria so wunderbar besang – die Herrschenden vom Thron gestürzt, die Habenichtse aber emporgehoben würden.
Wer solche Träume und politischen Ziele hatte, galt als gefährlich. Jeden Moment mussten sie damit rechnen, dass sie ebenfalls wie Jesus als „Revoluzzer“ und Unruhestifter verurteilt werden könnten. Kein Wunder also, dass sie vorsichtig waren und sich nicht hinauswagten.
Pfingsten als Mut zum Aufbruch
Da aber geschieht das Unerwartete. Da ereignet sich Pfingsten, in diese Situation von Verzagtheit und Angst und Furcht hinein. Verzagtheit wird durch Mut ersetzt, Angst durch Zuversicht und Furcht durch Furchtlosigkeit abgelöst. Das ist Pfingsten. Das ist die Gabe des Geistes. Die Konsequenzen sind unübersehbar. So plötzlich streifen die Jüngerinnen und Jünger ihre Ängste ab. Sie haben ihre Furcht vergessen. Die einfachen Bäuerinnen und Bauern aus Galiläa, die von der Jerusalemer Stadtbevölkerung abschätzig als ungebildet, als dumm, als unzivilisiert, als unrein betrachtet wurden, kaum würdig für das Wort Gottes, diese Menschen entwickeln plötzlich ein enormes Selbstvertrauen. Weit machen sie nun die Türen auf. Furchtlos treten sie vor die anderen Menschen, die wegen des Festes so zahlreich in Jerusalem waren. Diese Männer und Frauen aus der Unterschicht Palästinas wagen den Aufbruch. Stellvertretend für die anderen, so könnten wir jetzt in der Apostelgeschichte weiterlesen, tritt dann Petrus unerschrocken vor die Menge. Er wagt es sogar, sich auf den Propheten Joel zu beziehen, und spricht vom Anbruch des messianischen Reiches, das ist nichts weniger als eine soziale und politische Revolution, die die Verhältnisse völlig umgestaltet.
Pfingsten als konkrete Eutopie
Alles bloß eine Utopie? Eine charismatische Schwärmerei? Sind die Jüngerinnen und Jünger da bloß ausgeflippt? Wir müssen in der Apostelgeschichte weiterlesen, dann erfahren wir die unmittelbaren Auswirkungen von Pfingsten. Die handgreiflichen Wirkungen.
Der Geist Jesu bewirkt, dass Menschen Mut bekommen und die Nachfolge Jesu wagen können und so die enorme Zuversicht erfahren, in die Fußstapfen Jesu zu treten. Der Geist Jesu bewirkt, dass sich die einzelnen zugleich in Gemeinschaften zusammentun. Deswegen ist Pfingsten der Geburtstag der Kirche und aller Widerstandsgemeinschaften für gelebte Utopien. Der Geist Jesu bestimmt weiters die Art und Weise, wie die ersten Christinnen und Christen ihr Gemeindeleben gestalten: Diese Menschen in den urchristlichen Gemeinden, so schreibt Lukas, waren „ein Herz und eine Seele“. In die Kirche gehen, Christ oder Christin sein, das war nicht eine bloß geistige Sache, ein schönes Wort, ein positives Feeling. Es war für sie durch und durch handfest. Das hatte praktische materielle Konsequenzen.
So sind das Pfingstwunder und die Gabe des Geistes: Menschen werden befähigt zur Gütergemeinschaft. Sie haben alles gemeinsam. Manche sprechen auch von einem „Urkommunismus“. Das Wunder dieser ökonomischen Ordnung stellt sich sofort ein, wie wir in der Apostelgeschichte nachlesen könnten: Niemand unter ihnen litt Not, jeder und jede hatte das, was er und sie nötig hatte. Es ereignet sich ein sozialpolitisches Pfingstwunder. So erweist sich Pfingsten als soziale Revolution. Gerade in einer extremen Notsituation, in der die ersten christlichen Gemeinden waren, wiederholt sich das, was Jesus bereits in den Brotwundern zeigte: In Gemeinschaften, die sich am Prinzip des Teilens orientieren, werden die sozialen Spannungen aufgehoben. Das bedeutet, dass es keine Menschen mehr gibt, denen die Grundbedürfnisse versagt bleiben. Die Gabe des Geistes ist daher die Fähigkeit, eine Gesellschaft und eine Wirtschaft so zu gestalten, dass niemand mehr Not leidet und die Grundbedürfnisse aller Menschen erfüllt werden.
Pfingstwunder im Heute
Ein Blick auf das große Ganze unserer Welt zeigt all die Ambivalenzen auf. Weit sind wir von solch pfingstlicher Utopie entfernt. Der Geistkraft des Friedens und der Versöhnung steht eine Welt von Krieg und Aufrüstung gegenüber. Der Geistkraft des Teilens steht eine Welt voll von Armut gegenüber. Der schöpferischen Geistkraft, aus der laut biblischer Schrift alles entstand, stehen Klimanotstand, Ressourcenvergeudung und Artensterben gegenüber.
Daher der pfingstliche Himmelsruf: Möge die schöpferische Geistkraft uns täglich neu zu einem achtsamen Lebensstil befähigen. Möge die Geistkraft wie ein Wirbelwind die zerstörerischen Mechanismen unserer Wirtschaftsordnung verändern. Möge die Geistkraft wie ein sanfter Windhauch uns zum Teilen befähigen. Möge der göttliche Beistand uns mit Feuerzungen Mut zu Visionen geben, damit wir unsere Furcht und Angst überwinden können. Möge der Tröster in unserer Trauer uns beistehen. Möge die Geistkraft uns zu Geschwistern machen. Möge uns der pfingstliche Geist öffnen für die Wahrhaftigkeit in Beziehungen.
Klaus Heidegger, Pfingsten 2024