Ab dem Weiler Fuchsmoos ist die Pillerstraße wegen Straßenarbeiten gesperrt. Mit dem Mountainbike gibt es aber ein Vorbei. Im moosbraunen Wasser des Piller Teiches schwimmen kräftige Karpfen. Gleich dahinter beginnt der Kulturweg. Wir fahren langsam und schieben stellenweise auch das Rad. Der Bergwald mit Moorgebieten lässt Ruhigwerden und Staunen und ich atme tiefer ein, als ich müsste, weil sich die Luft so gut anfühlt, und ziehe mir den Waldduft durch die Nase. Zum Glück steht die Straße über den Piller Sattel dem Lärmen der Motorräder heute nicht zur Verfügung. Eigentlich, so habe ich mir schon öfters gedacht, sollten Motorräder keine Erlaubnis bekommen, durch einen Naturpark zu fahren. Noch mehr aber wünschte ich mir ein ökologisches Verantwortungsgefühl jener, die auf ihre Höllenmaschinen steigen. Unser Waldweg endet beim Brandopferplatz am Gachenblick (1558 m). Immer wieder fasziniert mich dieser Ort, wenn ich tief hinunter schaue ins Inntal und den mäandernden Inn, auf die Terrassen mit den Bergdörfern und darüber die Bergwelt des Kaunergrats, des Glockturmkamms, der Samnaungruppe und im Süden die Lechtaler Alpen.
Zunächst noch fahren wir mit den Bikes Richtung Puschlin und dann zum Forstweg, der zur Aifner Alm (1980 m) führt. Die Haupttourismuszeit hat schon begonnen. Wochenende und schönes Wetter. Trotzdem sind wir fast allein unterwegs. Ich kenne das Gebiet von meiner Jugendzeit an: Den Steig mit dem Gneisgestein, das von grün-braunen Flechten überzogen ist, die Zirbelkiefern, die weit hinaufwachsen, die Almrosenbüsche, die sich fast wie Unkraut mehr und mehr vermehren und Weideland wegnehmen. Der Steig führt zunächst zur Kleinen Aifnerspitze (2580) m mit einem merkwürdig schiefen Kreuz und schließlich auf einem schmalen Steig wellenförmig hinüber zum Hohen Aifner (2780 m). Die Hänge hinunter zum Kaunerberg sind enorm steil. Oafner – ein Wort, das für mich nur in gutturaler-nasaler Dialektaussprache richtig klingt. Die Seele ist angekommen, wo sie im Augenblick nicht weiter will, wo Himmel und Erde sich treffen. Hier kann sie sich stärken. Beim Hinuntergehen nehme ich am Grat ein Bad, wo sich aus dem Schmelzwasser eines noch kleinen Schneefeldes ein Miniweiher in Form einer Badewanne gebildet hat.
Kurz vor dem Almgebiet sind weitere kleine Moore mit dem charakteristischen Wollgras. In den Tümpeln haben schwarze Molche ihre Heimat. Das Abendessen, Fliegenschwärme, fliegt direkt über der Wasseroberfläche. Unser Abendessen gibt es auf der Alm im schon untergehenden Sonnenlicht. Kaspressknödel, Weizenbier – und drei junge Menschen haben Freude mit dem Spielen ihrer Ziehharmonika.
Beim Hinunterfahren nehmen wir uns noch Zeit für das Hochmoor. Ich denke weit zurück in die 60er Jahre, als meine Eltern hier noch Torf für ihren Garten geholt hatten. Man wusste damals nur, wie gut der Torf für den Garten, dem Lieblingsrevier meiner Mutter, war. Man wusste damals noch nichts vom Klimawandel, vom Kohlendioxid und Methan, das durch die Zerstörung von Moorlandschaften freigesetzt wird. Die unschätzbare und einzigartige Biodiversität von Mooren war damals kein Thema und niemand dachte daran, dass Moore auf kleinem Raum enorme Mengen an Kohlendioxid binden können. Heute wissen wir: Moorschutz ist Klimaschutz. Für Besuchende sind heute Stege und Schautafeln und ein Moorturm errichtet worden. Das Sein in dieser Naturlandschaft lässt die großen Zusammenhänge erahnen, in die mein Sein hineingefallen ist. Vor 12.000 Jahren verschwand hier nach der Eiszeit der Inntalgletscher, der die Senke zwischen dem Venetmassiv im Norden und dem ansetzenden Kaunergrat im Süden gebildet hatte. Aus den Schmelzwassern bildeten sich die Moore.
12.000 Jahre später in den Juli 2024. Die Nachrichten des Tages reißen mich zurück in die Gegenwart. In der Ukraine wird weiter bombardiert, geschossen, ermordet, zerstört. Im Gazastreifen wird weiter bombardiert, geschossen, ermordet, zerstört. In so vielen Ländern auch. Und weiter wird aufgerüstet. Und Rüstungsspiralen drehen sich mit furchterregender Geschwindigkeit. Zumindest hat bei den Parlamentswahlen in Frankreich das links-grüne Bündnis gewonnen und sind in Großbritannien die Tories von der Labour-Partei abgelöst worden. Mut gibt mir aber im Tiefsten, wenn ich spüre, in einem Mini-Augenblick des Weltgeschehens gehalten zu sein.
Klaus Heidegger