„Schlafes Bruder“ in Rattenberg
In den nächsten Wochen werde ich kaum Räume für Sport und Berge, für Klettern und Rennradfahren haben. Dankbar bin dafür, mich Kultur-Räumen zu öffnen. Ein besonderes Kultur-Highlight waren auch diesmal wieder die Rattenberger Schlossspiele. Das ist ein ganzheitliches Ereignis, bei dem nicht nur das Stück zählt, sondern genauso die Location und die Art und Weise, wie hier Theater gespielt wird. Besonders ist der Ort der Freilichtbühne bei den mittelalterlichen Burgruinen oberhalb der mittelalterlichen Kleinststadt. Zur Kulisse des Schauspiels zählen der Turm der Ruine und die alten Bäume im Burggraben, aber auch die Sterne im Nachthimmel. Besonders ist das bemühte Team der Schlossspiel-Gemeinschaft. Hier werkeln nicht professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern begeisterte Menschen aus der Mitte der lokalen Bevölkerung. Die Unterinntaler Dialekt ist in vielen Dialogen heraushörbar. Es ist kein hochsubventionierter Kulturbetrieb, sondern professionelle Laienhaftigkeit. Da geschieht viel mehr, als nur ein Stück zur Aufführung zu bringen. Die vielen Menschen, die über viele Monate an diesem Projekt arbeiten, werden zur Gemeinschaft. Besonders ist die Fledermaus, die während des Stückes mehrmals über der Bühne flattert, und das Rattern der Züge unter dem Schlossberg.
„Schlafes Bruder“ deckt auf und verdeckt
Der Regisseur hat eine Adoption der Theateradaption von Robert Schneiders bekanntem Roman „Schlafes Bruder“ gemacht. Der Inhalt des Klassikers passt zu Rattenberg, passt zur Auseinandersetzung mit den Schattenseiten eines Lebens in alpenländischen und von der römisch-katholisch Kirche geprägten Milieus. Schneider hat die Themen eines von den Pflegeeltern nicht geliebten Kindes, von sozialem Mobbing in einem Dorf, von gewaltdurchtränkten Beziehungsgeschichten, von der Doppelmoral der Kirche mit einem abstoßenden Gottesbild, von psychischen und körperlichen Krankheiten, von Depression und Inzest, von Verzweiflung und Liebesdurchtränktheit, von Alkoholkonsum und prekären Lebensverhältnissen, von Selbstmord und Geschwisterstreit, von unerfüllter Liebe und homoerotischen Gefühlen und dem Erwachsenwerden in lebensfeindliche Zusammenhänge in eine Geschichte verpackt. Die Bezüge zu realen Vorgaben sind offensichtlich. Im Theaterstück selbst wird diese Themenfülle noch klischeehafter und stets hart am Rande peinlicher Übertreibung in Szene gesetzt. Mein theologisch geprägtes Denken und meine kirchliche Verbundenheit wird vor allem durch die Art und Weise herausgefordert, welches Bild von Kirche und ihren Glaubensüberzeugungen hier den Rahmen bildet. Neben der Gestalt der Hauptperson Elias Johannes ist es vor allem die Person des Pfarrers Johannes, der cholerisch und verschroben im Dorf seine Spuren hinterlässt. Nicht nur Elias geht auf seine sexuellen Abenteuer mit den Frauen des Dorfes zurück, sondern es ist seine Art, die sexuellen Triebe an den Frauen auszulassen. Hinter all dem steht ein rächender und doch weltferner Himmelgott, der in Abhängigkeiten zwingt und doppelmoralisches Verhalten zu legitimieren scheint. Selbst die Liebe von Elias zu seiner angebeteten Elsbeth schenkt keinen Ausweg aus dem dystopisch-destruktiven Beziehungsgeflecht. Einzig die Musik ist es, mit denen er die Türen des Himmels einen Spalt weit öffnen kann.
Schlafes Bruder und Crystal Meth-Labor im Pfarrhof
Die Häme, mit der der Pfarrer und sein zölibatäres Sexualleben charakterisiert wird, scheint selbst bei dem wohl durchwegs katholischen Publikum auf zustimmende Resonanz zu stoßen. Man muss schon aufpassen, um nicht in die generalisierende Falle zu tappen und sich zu denken: „So sind sie sie halt, die scheinheiligen Pfaffen.“ Als der Vorarlberger Romancier seine erfolgreiches Erstlingswerk vor mehr als 30 Jahren schrieb, war kirchlicher Missbrauch noch kaum ein Thema. Inzwischen ist das Bild der Kirche und ihrer Pfarrer im kollektiven Bewusstsein stark beschädigt.
Dabei muss ich unwillkürlich an einen anderen Fall denken, der gerade medial hochgespielt wird und schon wieder einen Stoff bieten würde für einen Roman mit dem Titel „Drogenlabor im Widum“. Was bleibt und wohl alle Kirchenfeinde nun aus diesem Einzelfall von einem Pfarrer in einer abgelegenen Gemeinde im Waldviertel ziehen: „So sind sie – den Pfarrern ist nicht über den Weg zu trauen, die kochen sich sogar in ihren Pfarrräumlichkeiten Crystal-Meth.“ Kirchenfeinde und Religionskritiker können sich schadensfroh die Hände reiben. Birgitt Wittstock schreibt dazu treffend in der Wochenendausgabe vom STANDARD: „Der Fall des Pfarrers könnte als eine vergleichsweise kleine Nummer in die Statistik der Suchtmittelkriminalität eingehen, wäre die Fallhöhe für den Geistlichen nicht anders bemessen. Ein Blick ins Netz zeigt: Wenn die Kirche über die eigene Selbsterhöhung stolpert, sorgt das für Häme und Schadenfreude.“ (DER STANDARD, 3. 8. 2024)
Wo einzelne Vertreter der Kirche gegen die hohen eigenen Ansprüche verstoßen, braucht es Kritik bzw. entsprechende rechtliche Vorgangsweisen, egal ob es im Sexualverhalten einzelner Geistlicher liegt oder eben im Umgang mit Drogen. Aber: Nicht „die Kirche“ ist so. Und: Nicht „die Geistlichen“ sind so. Vor allem aber gilt: Es ist die Religion selbst, die sich entfalten möchte, um Menschen aus Gewalt und Abhängigkeiten zu befreien. Wahre Religion dient nie der Repression, sondern einem Leben in Fülle. Göttliches wird erfahrbar nicht in einem fernen tyrannischen Himmelsvater als Produkt menschlicher Phantasie, sondern als Liebeskraft zwischen Menschen. Solches Denken ist aber weder der Verständnishorizont in Schlafes Bruder noch in der Art und Weise, wie heute über den Crystal-Meth-Pfarrer aus dem Waldviertel geschrieben wird.
Klaus Heidegger, 3. August 2024