Keine klassische Theaterkritik
Wenn ich ein Theaterstück oder einen Film sehe oder ein literarisches Werk lese, ist es meine Schreibart nicht, zu den vielen Kritiken oder Rezensionen eine neue Kritik hinzuzufügen. Mir geht’s viel mehr darum, das Gesehene als Schlüssel zu sehen, um Welt und Mensch, um Politik und Privates, um Gott und Religion, um Philosophie und Theologie mit neuen Blickwinkeln zu verstehen. Das in diesem Theatersommer in Tirol am besten beworbene, seit Wochen ausverkaufte und meist diskutierte Stück konnte ich bei den Telfer Volksschauspielen besuchen: Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist, ein Klassiker aus Schultagen, das lange in den Lehrplänen für Deutsch vorgesehen war als Beispiel für eine Dichtung aus der Zeit der Romantik.
Patriarchale Gewalt wird aufgedeckt
Am Tag nach dem Theaterbesuch wird in einer Tageszeitung von einer neuen Studie über sexualisierte Männergewalt geschrieben: Statistisch gesehen ist Österreich weit oben bei den Femiziden. Patriarchale Strukturen in Verbindung mit psychopathischen Persönlichkeitsstörungen seien die wesentliche Ursache dahinter, fand die Leiterin der Studie heraus. Um das Aufdecken sexueller Übergriffe von Männern an Frauen ging es vor mehr als 200 Jahren schon Heinrich von Kleist. MeToo-Stoff in der Sprache der Romantik. Kleist hat sein „Lustspiel“ dabei sehr einfach gestrickt und diese fast plumpe Einfachheit wird in Telfs von den Schauspielprofis überdeutlich gespielt. Allen voran brilliert Tobias Moretti, der eine toxische Männlichkeit so richtig entfalten kann. Die Heldinnen sind aber die Frauen: Die deutsche Schauspielerin Corinna Harfouch lässt sich als Gerichtsbeauftragte in Cowboy-Outfit nicht korrumpieren und abwimmeln, sondern ist interessiert an dem, was rechts von der Bühne auf einem Balkon des Hauses am Eduard-Wallnöfer-Platz in großen Lettern steht: JUSTICE. Dort hängt jene Frau, die später als Zeugin den Täter entführt, wassertriefende weiße Wäsche auf.
Hineinverwoben in die Strukturen
Die Opfer-Täter-Dynamik ist vordergründig schnell aufgedeckt. Die Sympathie aller gehört dem Opfer Eve, die aufgrund der herrschenden Patriarchiatsstruktur unterdrückt und sexuell missbraucht werden konnte. Heinrich von Kleist hat in seinen Versen Tiefgründiges hinein verstrickt. Jeder Mann muss sich bewusst sein, ein Stück der Schuld Adams in sich zu tragen. Wohl nicht von ungefähr wählte Kleist „Adam“ als Name für den Dorfrichter und gleich zu Beginn spricht der Kleist-Adam den bekannten Satz: „… zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße. / Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? / Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst.“ Treffend bringt Kleist damit das Erbsünden-Dilemma auf den Punkt. Doch gibt es auch Erlösung, die im Streben nach Gerechtigkeit und Recht liegt.
Das Erlebnis von Theater in Open-Air-Atmosphäre auf dem großen Platz in der Mitte von Telfs öffnet den Raum, sich als in das Geschehen hinein verstrickt zu erleben. Was Kleist dichtete, findet überall statt, an vielen Orten Tirols wohl auch, findet heute statt. So wird das Publikum anfangs gleich gefragt, ob es der Kläger ist. Der riesige Container-Laster, mit dem Tobias Moretti ins Geschehen donnert, wird zur Bühne für das Geschehene, das doch auch im Heute zu finden ist. Eve ist das Opfer und emanzipiert sich aber dann doch, dass sie am Ende des Stückes nicht länger schweigt.
Befreiendes
Der Macho wird enttarnt, der Teufel mit dem Klumpfuß ist entmachtet, die Liebe zwischen Eve und Ruprecht kann nun sein, die Justiz hat sich den Raum geschaffen. Anders als bei der Erstaufführung von „Der Zerbrochne Krug“ unter der Regie von Johan Wolfgang von Goethe in Leipzig, wo das Stück von Publikum und Kritik völlig kritisiert worden ist, gab es am Wallnöfer-Platz in Telfs viel Applaus: Wohl nicht nur für das grandiose Schauspieler-Ensemble und die kreativen Einfälle der Inszenierung, sondern auch für die kollektiv empfundene Freude, wenn Unrecht aufgedeckt und Gerechtigkeit geschaffen wird, wenn Lüge entlarvt wird und Wahrheit sich Raum schafft. Um einen zerbrochnen Krug ging es am Beginn des Stückes. Er wird zur Nebensache. Zerbrochen werden nun die Macht von Lüge und Gewalt.
Klaus Heidegger