Fassade der Hoffnung – meine Kunstspaziergänge durch Innsbruck: Teil 1

Ein anderer Sommer

Ein Sommer, der für mich so anders ist als die vielen Sommer davor. In diesem Sommer blicke ich nicht von den Höhen der Berge hinunter in die Täler, sondern vielmehr lasse ich mich durch die sommerlichen Straßen jener Stadt treiben, die mir als Heimat zugeteilt wurde. Dann nehme ich mir Zeit für das bewusste Wahrnehmen von Geschichte, die sich in Kunst und Architektur verdichtet hat, von Kultur, die sich an vielen Orten in Innsbruck versteckt hält und darauf wartet, auch von mir entdeckt und als Interpretationsrahmen für das eigene Sein und aktuelle politische Situationen angenommen zu werden.

Georgskapelle im Alten Landhaus

In der belebtesten Straße von Innsbruck und dem touristischen Hotspot Tirols – der Maria-Theresien-Straße – liegt verborgen im Hof des majestätischen Alten Landhauses die Georgskapelle. Selbst als ich gegenüber vom Landhaus als Student in einer typischen Studenten-WG wohnte, war die Georgskapelle nie ein Ort, den ich aufsuchte. Kletterrouten auf die Nordkette oder Demonstrationen für eine bessere Welt, Diss-Schreiben und Führungsaufgaben in Pfarrgemeinde und Kath. Arbeiterjugend füllten mein Leben zu 100 Prozent aus. Eduard Wallnöfer war der große Patriarch, der mit absoluter Mehrheit ausgestattet das Land regierte. Der Heilige Georg wurde erst auch viele Jahre später – im Jahr 2005 – neben dem Heiligen Josef zum 2. Landespatron von Tirol.

Viele Jahre später weiche ich vom Touristenstrom ab, gehe durch das mächtige Portal des Barockpalastes in dessen Innenhof. Hier ist es ganz ruhig. Die Menschenmassen finden nicht den Weg hinein. Die Fassade der Kapelle, die nun im Osten des Innenhofes vor mir liegt, erfüllt all die Kriterien einer spätbarocken Architektur. Doch etwas ist da ganz besonders.

Moderne, kräftige Skulpturen in barocker Fassade

Die vier Nischen der Barockfassade sind mit monumentalen bronzenen Skulpturen von Lois Anvidalfarei gefüllt. Der Ladiner Künstler aus Südtirol interpretiert dabei auf seine ganz eigene Weise vier Aspekte aus der Legende des Heiligen Georg.

Rechts oben stellt die Skulptur einer nackten, leicht gekrümmten Gestalt „Das haltlose Böse“ dar. Ich würde eine Nahaufnahme nicht auf den Meta-Kanälen posten, um nicht gesperrt zu werden. Fast überdimensioniert wirkt das Hinterteil, das dem Betrachter entgegengestreckt wird, und auch das männliche Geschlechtsmerkmal bleibt nicht verborgen. Das Gesicht bleibt verborgen. Schämt sich diese Gestalt schon? Da geht nichts Schönes von ihr aus, nur Bedrohliches, so bedrohlich wohl wie vieles, was Menschen und die Welt in den Abgrund zu reißen droht. Die schwarze Gestalt ist wie die Antithese zum rosaroten barocken Stuckatur-Interieur der Kapelle.

Doch will die Fassade im ganzen Erschrecken zugleich Hoffnung vermitteln. Sie beginnt schon mit der zweiten Skulptur links unten beim Eingang. Sie trägt den Titel „Das Entsetzen über das Böse“. Der Kopf ist nun dem Betrachtenden zugewandt und liegt auf der Nische. Die beiden Hände greifen zum Schädel. Hände und Kopf – mehr gibt es nicht. Wie in einer Dramaturgie blickt der Kopf hinauf zur Bedrohung rechts oberhalb von ihm. Oder blickt er schon zur Gestalt direkt über ihm?

In der Nische oberhalb wird die Skulptur „Die Bekehrung“ nun nicht mehr dem Betrachtenden abgewandt dargestellt. Sie dreht sich aus der Nische heraus, gerade so, als würde sie umkehren wollen, einen Neubeginn wagen. Die Figur wirkt trotz ihrer Schwere wie ein Tänzer und steht auf den Spitzen der Zehen. Ihr Blick richtet sich hinunter zur Skulptur in der rechten Nische am Eingang. Ruft sie zur Umkehr?

Jetzt hat der Künstler lediglich einen Kopf und eine segnende Hand in die untere Nische gestellt – oder besser gesagt, sie scheinen zu fliegen. Die Skulpturgruppe heißt entsprechend: „Die Segnung“.

Die Barockfassade der Landhauskapelle wird mit diesen vier Figuren wie ein Anschauungsunterricht für „Dramatische Theologie“. In den nackten Körpern bzw. den Körperteilen wird sichtbar, wie Leben zerstört werden kann, was als das Böse genannt werden kann und erfahren wird. Es bleibt aber nicht dabei. Auf die Erkenntnis folgt die Bekehrung, die mit einem Segen abschließt. Das Böse und auch Befreiung haben immer auch mit dem Nackten und dem Leiblichen zu tun. Was so befreiend an dieser Skulpturenanordnung ist: Anders als in den ikonographischen Darstellungen über die Vita des Heiligen Georg wird hier das Böse nicht gewaltsam besiegt. Der Drache als Gegenspieler des legendarischen Georg wird nicht erstochen, ja kommt hier gar nicht vor. Es erscheint vielmehr so, dass das Böse selbst zur Erkenntnis kommt und – gezogen von einem göttlichen Segen – umkehren kann.

Kassian und Vigilius oder Tomaselli

In der Kapelle selbst freilich wird Georg wieder als Drachentöter dargestellt: das Böse wird mit Gewalt besiegt – so könnte dies interpretiert werden. Die Geschichte des frühen Christentums erzählt andere Geschichten: links und rechts am Altar stehen die Statuen von Kassian und Vigilius, zwei Märtyrer aus der Frühgeschichte des Christentums in Tirol. Ich finde sie wieder als Säulenheilige am Sockel der Annasäule zwischen Georg, dem Drachentöter.

Die Massen von Touristinnen und Touristen an diesem heißen Sommertag in der Maria-Theresien-Straße nehmen anderes wahr. Die Schlange vor dem Tomaselli-Eisgeschäft ist lang. Innsbrucks bekanntester Eismacher ist bekannter als Kassian – sein Gedenktag war erst gestern – oder Vigilius. Mein Weg führt in den Hof beim Palais Trapp. Dort werde ich noch mehr Bronzeskulpturen von Lois Anvidalfarei sehen und auf mich wirken lassen. Aber das ist eine weitere Geschichte wert.

klaus.heidegger

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