Planetarische Schnappatmung

Eine vielfältige Fülle an Bildender und Darstellender Kunst, an Musik und Literatur wird in den 23 Orten des Salzkammergutes im Zusammenhang mit der Europäischen Kulturhauptstadt Bad Ischl-Salzkammergut  2024 angeboten. Zeitgenössische Kunst verkörpert das Leiden und auch das Sehnen nach gelingendem Leben, nach Zerstörung der Lebensgrundlagen und auch die Hoffnung, dass unser Planet doch noch gerettet werden könnte, nach Gefangensein und den Bedingungen für ein Freisein. Kunst wird zum Seismografen des Bestehenden wie des Möglichen. Manchmal bleibe ich vor einer Skulptur, einem Bild oder einer Darstellung lange stehen, weil es Objekte sind, die – ganz im Sinne von Platons Ideenlehre – die Wirklichkeit des Seienden mit künstlerischer Genialität gegenständlich machen und mich in meiner Befindlichkeit berühren.

Am Bahnhofsvorplatz in Bad Ischl hat Xenia Hausner für das Kulturhauptstadt-Jahr eine drei Meter hohe Skulptur geschaffen. Die Frauenbüste ist aus silbrig glänzendem Material. Die Frau schnappt verzweifelt nach Luft. Ihr Mund ist weit geöffnet. Auf ihrem Kopf balanciert ein Sauerstoffbehälter, mit dem ihr geöffneter Mund aber unverbunden bleibt. „ATEMLUFT“ steht auf dem Behälter.

Die Deutung und Bedeutung drängen sich mir auf: Die Frauenbüste könnte für unseren Planeten stehen. Wie sehr doch schnappt diese Welt nach Luft, nach reiner Luft, die leben lässt, doch wie sehr wird diese Luft mit Emissionen vergiftet, so dass der gesamte Planet in den Zustand einer Schnappatmung gerät. Die verzweifelt nach Luft schnappende Frau könnte jeder und jede von uns sein. Wie viele Menschen schnappen nach Luft – nach Liebe, die ihnen verwehrt wird, nach Zärtlichkeit, die ihnen nicht geschenkt wird, nach Versöhnung, die vorenthalten wird, nach Nahrungsmitteln, die gesund und stark machen, nach Heilung von körperlichen und seelischen Verletzungen – und auch nach Luft, die nicht vergiftet ist. Wer die Skulptur ansieht, kann das eigene Spiegelbild im polierten Aluminium der Frauenbüste erkennen. Jede und jeder ist in ihr zu finden: als Opfer und Täter von Schnappluft-Situationen. Der Ort vor dem historischen Bahnhof der Salzkammergut-Bahn ist passend auch für die täglichen Alltagsentscheidungen in der Frage der Mobilität. Einst reiste selbst der Kaiser noch mit der Bahn in sein Sommerdomizil. An die ehemalige Lokalbahnstrecke nach Salzburg erinnern nur mehr alte Lokomotiven, die museal am Vorplatz gegenüber der Büste ausgestellt sind und sich jetzt in der silbernen Frauenbüste widerspiegeln, genauso wie das ÖBB-Zeichen des Bahnhofs, das zur Benützung der Salzkammergutbahn einlädt.

Am Tag, an dem ich das Werk der Künstlerin sehe, die am nahen Traunsee lebt, ist der Himmel über der Atemluft-Skulptur tiefblau. Die dargestellte Frau sieht wohl nicht nur den Behälter, sondern ahnt: Unser Planet ist umgeben von einer Hülle aus Sauerstoff, der uns leben lassen könnte, von dem es so eine unbegrenzte Fülle gäbe, würde es nicht auf vielfältige Weise eingeschränkt.

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