Übernachtung
Zu einer Übernachtung auf über 3000 Meter zählt wohl, dass man nicht immer gut schläft. Jedes Mal, wenn wer in der Nacht den Gang entlang ging und die Bretter der alten Hütte knarrten, leuchtete ein Licht wie ein Scheinwerfer auf. Das Atmen fühlt sich auch so anders an, als unten im Tal, und im Kopf spielt sich ein Gewitter ab, das wohl wie ein Ersatz für das Meteorologische ist, das gestern doch nicht kam. Eine mir noch unbekannte Hüttenwanderung in hochalpinem Terrain steht uns bevor.
Sparsam wird das Wasser zum Zähneputzen benützt, das aus einem kleinen Wassersack fließen kann, der vor der Hütte hängt. Währenddessen schaue ich rundherum und orientiere mich. Um den Hohen Nebelkogel halten sich Nebelwolken. Als die Hochstubaihütte in den 30er-Jahren erbaut wurde, reichte der Wütenkarferner bis oben zum Gipfelplateau und man konnte über ihn den Weg ins Gebiet des Stubaier Gletschers nehmen. In der Zeit der schwindenden Gletscher und des auftauenden Permafrosts haben sich die Besteigungsmöglichkeiten der diversen Gipfel rundherum verändert. Riesige Steinbrocken liegen auf dem mit Gletscherspalten grauen Eis des Wütenkarferners, die sich von den Flanken der Wildkarspitze und Warkarseitenspitze gelöst hatten. Mich zieht es nicht auf diese brüchig wirkenden Felsgestalten.
Himmelsleiter und skurrile Gletscherwelt
Wohl einer der steilsten Treppen, die ich je gegangen bin, führt direkt vom Gipfelplateau, auf dem die Hochstubaihütte liegt, gefühlt fast senkrecht hinunter zum Seekarsee, der 500 Meter tiefer liegt. Der Name „Himmelsleiter“ passt jedenfalls. Zum Glück gibt es auch ein dünnes Stahlseil, das etwas Sicherheit schenkt. Die gewesene Verletzung macht mich doch etwas unsicher. Am meisten Sicherheit gibt aber wie immer das begleitende Unterwegssein. Beim Seekarsee dann beginnen reizvolle Querungen, ein neuerlicher Aufstieg zum Fäulaskofel und dann liegt das vor uns, was als Stubaier Gletscher bezeichnet wird. Eine steile Eisflanke geht beim Windachferner unterhalb von der Jochdohle hinauf. Wir stapfen am nördlichen Ende davon im Schmutz des Gletscherbetriebs – da liegt selbst ein verlassenes Snowbard und ein zerbeulter Skihelm – zu den Schneedepots, die mit weißen Schutzvliesmatten für die kommenden Skisaison konserviert wurden. Wir haben Steigeisen und Grödel dabei, um über das triefende Eis hinauf zur Eisgratstation zu gehen, dann hinüber zur Jochdohle und von dort über den Gaiskarferner in den Süden hinunter. Der Weg über den Gletscher ist mit roten Stangen markiert, von denen einige aber schon umgefallen sind, weil sie rundherum keinen Halt mehr haben. Diese „Gletscher“-Landschaft wirkt skurril alptraumhaft. Das hochsensible Ökosystem Gletscher ist wohl zerstört. Vliesrollen und ein Gletscher, auf dem tausende Bächlein Schmelzwasser rinnen. Hier ist der Anschauungsunterricht für die Zahlen, die am Ende des Sommers 2024 veröffentlicht wurden: Der August 2024 geht mit neuen Temperaturrekorden in die Messgeschichte ein. Im Tiefland Österreichs waren die Temperaturen um 3°C höher als in der Referenzperiode von 1991 bis 2020, in den Gipfelregionen machte sich sogar ein Anstieg von 3,3°C bemerkbar. Das Gletschereis schmilzt schneller denn je. Mit Vlies und Schneekanonen wird das rapide Abschmelzen der Gletscher wohl nicht verhindern lassen. Was es bräuchte, sagt die Wissenschaft ganz klar: Eine Reduktion der klimaschädlichen Treibhausgase durch eine nachhaltige Politik und einen Lebensstil der Massen, der nicht auf der Ausbeutung fossiler Rohstoffe beruht.
Hildesheimer Hütte – Siegerlandhütte
Beeindruckend ist der Steig dann weg von der industriellen Gletschernutzungswelt hinunter zur Hildesheimer Hütte. Man merkt, dass die Ferien- und Urlaubszeit zu Ende ist. Nur mehr wenige Menschen sind unterwegs. Gestärkt mit Kaspress-Knödeln von der Hütte geht es weiter. Das Wetter hält. Steige entlang von Bergflanken, über Geröll hinauf auf ein Joch, Blicke auf beeindruckende Bergseen und dann hinüber zur Siegerlandhütte, die am Ende des weiten Hochtales liegt. Die Gletscher haben sich wie kleine Restchen aus früheren Zeiten von der Hütte in die Höhen zurückgezogen. Jedenfalls hatten wir auf diesen 16 Kilometer und rund 1300 Höhenmetern im Aufstieg und fast ebenso viel im Abstieg einen Tag voller Eindrücke, Abertausenden Schritten entlang von Tiefen und Höhen. Nur ganz am Ende erwischten uns ein paar Regentropfen.