geborgen sein in Ungeborgenheiten – eine karolingische Ringkrypta in Chur

Der Raum ist besonders. Ein Raum, der Geborgenheit fühlen lässt. Und Geborgenheit hat mit Schutz, hat mit Freundschaft, hat mit Intimität, hat mit Angenommensein, hat mit Verstandensein, hat mit Ruhe, hat mit Verweilen und hat in all dem mit Liebe zu tun. Deswegen ist es wohl auch ein Gottesraum, der göttliche Nähe ausstrahlt und zum Gebet verleitet. Der Raum ist eine karolingische Ringkrypta. Unter den vielen Kirchenräumen, die ich an diesem Tag in der Hauptstadt des Kantons Graubünden sah, bot sie am meisten das, was meine Seele sucht: Geborgenheit, Schutz, Intimität, Angenommensein, Ruhe, die Du-Erfahrung, die ausdrückt: Du darfst sein, wie du bist, um zu werden, der du sein möchtest.

Den besonderen Raum aus romanischer Zeit fand ich in Chur unter dem Chor der Kirche St. Luzius. Die Luziuskirche liegt oberhalb der Kathedrale, die wir zuvor sahen. Bereits im 5. Jahrhundert wurden an diesem Ort christliche Gebäude errichtet – gilt doch Chur als die älteste Stadt in der Schweiz. Ein Fresko in der Luzius-Kirche erinnert daran, dass ursprünglich eine Kirche zum Hl. Andreas hier stand. In der Ringkrypta wurden seit mittelalterlicher Zeit die Reliquien des rätischen Glaubensboten Luzius verehrt. Der Originalschrein ist inzwischen im Dommuseum. Luzius ist Stadtpatron von Chur.

Mich interessiert die Vita des Heiligen, die ich bislang nicht kannte, und ich nehme mir aus der legendarischen Darstellung, was für heute bedeutsam sein könnte. Einst soll Luzius – ganz ähnlich wie Romedius – von einem Bären bedrängt worden sein, der ihm einen der beiden Ochsen riss, mit dem der Wagen von Luzius gezogen worden war. Darauf befahl Luzius dem Bären, er möge statt des einen getöteten Ochsen und im Gespann mit dem anderen sein Gefährt ziehen, was auch geschah. Zwei Aspekte sind mir bedeutsam: Wer heiligmäßig lebt, lebt im Einklang mit den Kräften und auch Gefahren der Natur, wofür der Bär wohl stehen wird. Zweitens zähmt Luzius den Bären und macht sich seine Kräfte nutzbar. Luzius ist wie Romedius und nicht wie Georg der Drachentöter. Die Assoziation mit dem Feindbild des „russischen Bären“ drängt sich auf. Soll er mit F-16-Kampfbombern gejagt werden und Marschflugkörpern erlegt werden – oder kann die gewaltfreie Strategie der Entfeindung des Hl. Luzius gelingen? Meine Freunde singen ein „Dona nobis pacem“. Ein Lichtschein von außen fällt auf ein altes Kreuz. Dona nobis pacem, schenke uns Frieden – drei Worte, die politisch und zugleich persönlich das tiefste Gebet heute sind.

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