Erfahrungen beim Reisen nach Rostock

Tag1: 17. September 2024. Über die Grenze fährt der Zug. EU-Binnengrenze. Zwischen Deutschland und Österreich. Ab heute gelten an deutschen Grenzen verschärfte Einreisekontrollen. Was die rechtspopulistischen Parteien fordern, wird nun von der Ampelkoalition SPD/FDP/Grüne umgesetzt. Ein wesentlicher Grundsatz im humanitären Asylrecht wird ignoriert. Die Grünen machen mit. Der Schengen-Raum ist von gestern. Zwei Polizeibeamte in abschreckend wirkendem Outfit gehen durch den Zug. Wir beide haben blaue Augen und sind unverdächtig. Die Praxis der Zurückweisungen ist für die Armutsflüchtinge unserer Welt. Eine Zahl nur ist es in der heutigen Tageszeitung: In den Monaten Mai und Juni gab es an der deutsch-österreichischen Grenze bereits 2938 Zurückweisungen. Hinter der Zahl stehen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, stehen schreckliche Fluchtgeschichten und mit einer großen Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Sicherheit.

Der Regen der vergangenen Tage hat aufgehört. Sonne strahlt heute vom hellblauen Himmel. Im Osten Österreichs brachten die Regenmassen der vergangenen Tage schwere Unwetter, Hochwasser, Überschwemmungen, Dammbrüche. Menschen verloren Hab und Gut. Die klimatologische Wissenschaft und Organisationen, die ich unterstütze, Scientists for Future, Fridays for Future oder Letzte Generation, sie haben lange davor gewarnt. Katastrophenalarm gibt es aktuell aber nicht nur in Niederösterreich und Wien, sondern auch in vielen Ländern Osteuropas. Werden die Spitzenpolitiker hierzulande von der Notwendigkeit sprechen, nun wirklich das Thema Erderhitzung ernst zu nehmen? Wird Bundeskanzler Nehammer weiterhin vom „Autoland Österreich“ reden? Werden Politiker der SPÖ weiterhin Straßenbauprojekte befürworten? Wird gar die FPÖ ihre Klimawandelleugnungsstrategie aufgeben? Ein Foto von einem FP-Werbeplakat steht für die politische Situation. Es zeigt Herbert Kickl und die Aufschrift „Euer Wille geschehe“ auf einem Dreieckständer, der in den Fluten des Hochwassers steht.

Eine lange Reise in ganzer Süd-Nord-Richtung Deutschlands beginnt. Die leichten Rennräder sind in Fahrradtaschen gepackt. Wird vom Zugpersonal das leichte und doch sperrige Gepäck akzeptiert werden? Es ist wieder ein Versuch, die Öffis mit Rad zu testen. Wir wählten ein Interrail-Ticket. Drei Tage für ein Land. Alles ist nun am Handy. Diese digitale Form der Fahrkarte ist mir noch nicht vertraut. Auch das ist eine neue Erfahrung. Auf mein Handy speicherte ich den Rail-Pass und die geplante Fahrt. Das war noch einfach. Am Bahnhofsfahrkartenschalter bekam ich die Auskunft, den Pass erst in Deutschland zu aktivieren. Bis dorthin habe ich das Klimaticket. Es funktioniere, so wurde mir versichert, sobald das Smartphone eine Internetverbindung aufbauen kann. (…)

München – Nürnberg – Halle – Erfurt: schon bald sind wir in Berlin. Die Fahrt geht schnell. 198 km/h zeigt der Bildschirm. 16.06 Uhr. Sechs Stunden sind es von Innsbruck bis Berlin. Ohne Umsteigen von München. Die Räder in den Säcken konnten problemlos ihren Platz im Eingangsbereich finden. Ich nehme nur winzige Bruchstücke von der Landschaft wahr, die draußen scheinbar vorbeisaust, wobei ich es bin, der vorbeisaust. In Gedanken bin ich immer wieder bei den wenigen Tagen vor eineinhalb Jahren, in denen ich mit meiner Nichte fast die gleiche Strecke mit dem Rennrad bis Kopenhagen fuhr. Da war jeder Kilometer, jeder Windhauch und jede auch noch so kleine Steigung spürbar. Die abgeernteten Felder zwischen Erfurt und Berlin sind riesengroß. DDR-Planwirtschaft aus einer längst vergangenen Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Felder, die mehr als 10 Hektar groß sind. So manche bewegliche Beregnungsanlage ist einen halben Kilometer breit. (…)

Unterwegssein. Der Blick weitet sich. Tausende Menschen im Laufe eines Tages. Im Zug, vorne, hinten, daneben, auf den Bahnsteigen, aufgeweckte Menschen, hoffnungsvolle Menschen, nervöse Menschen, junge Menschen, alte Menschen, Schaffnermenschen, Menschen. Manchmal verliebte Menschen – aber selten. Manchmal Ehemenschen, wo nur wenig Lust dazwischen zu sein scheint. Menschen auf dem Weg zu Kongressen, zu irgendeiner Arbeit, zu Besuchen – wohl wenig typische Urlaubermenschen an diesem Montag in der Mitte des Septembers. Landschaften, manchmal ein Dorf oder eine Stadt und dazwischen ganz viel Land. Die Berge sind längst verschwunden. Der Bahnhof in Berlin ist eine gigantische architektonische High-Tech-Leistung. Die Bahnsteige und Geleise befinden sich auf unterschiedlichen Etagen übereinander. Abendsonne bei der Weiterfahrt Richtung Rostock. Vier Frauen im Vierersitz nebenan reden intensiv miteinander. Lebensgeschichten tun sich auf, weil ich zuhören muss, ohne zuhören zu wollen. Oranienburg – ein Name, der mich an geschichtliche Ereignisse erinnert. Hier in der Nähe gab es ein KZ – inzwischen eine Gedenkstätte. Die vorbeiziehende Welt ist nur flach-flach-flach. Das KZ Sachsenhausen war am Stadtrand von Oranienburg. Der Zug rollt durch das Bundesland Brandenburg. Am Wochenende werden hier Kommunalwahlen sein. Die AfD ist laut Umfragen mit 29 Prozent an der Spitze. Sachsenhausen und AfD – zwei Namen, die irgendwie zusammengehören.

Ankommen in Rostock. Ich könnte glauben, am Ende der Welt zu sein. Der Bahnhof ähnelt den Bahnhöfen entlegener Vorstädte. Renoviert wurde er wohl seit den Gründungszeiten nicht mehr. Ein kleines Backsteingebäude mit dem Schild „Radstation“ ist daran angebaut. Noch bleibt beim Warten auf den Anschluss genügend Zeit für ein Lokalbesuch. Es ist längst dunkel geworden. Das Chinarestaurant ist gerade beim Schließen. Daneben verkauft ein chinesischer Laden Getränke und kleine Imbisse. Im Bahnhofsgebäude selbst liegt die Verpflegung auch in chinesischer Hand. Über den Tischen ist ein Buddhaschrein mit roten LED-Lämpchen. Was wäre, wenn die „Ausländer-raus“-Parolen der AfD Wirklichkeit würden? Der Platz vor dem Bahnhof heißt inzwischen „Konrad-Adenauer-Platz“. Der Platz strahlt zugleich noch DDR-Vergangenheit aus. Bei der Weiterfahrt Richtung Ostsee steigen dann knapp ein Dutzend junge Männer zu. Sie sind unschwer als Asylsuchende auszumachen. Von der Schaffnerin werden sie streng kontrolliert. Ich rede noch kurz mit ihnen. Sie kommen aus Syrien, sind seit zwei Jahren hier, möchten arbeiten als Friseure, als Mechaniker, sie haben aber keine Erlaubnis dazu, ihre Anträge auf Asyl sind noch unbeantwortet. Nach 14 Kriegsjahren möchten sie nie mehr zurück nach Syrien. Im Gegenteil. Sie möchten, dass ihre Familien nachkommen.

Wie wird ihre Geschichte weitergehen? Begegnungen, die mich ratlos und nachdenklich zurücklassen. Sind wir gefühlt schon am Ende der Welt? Am Bahnhof in Rostock steht ein Zug bemalt in PRIDE-Regenbogenfarben des Widerstands und mit der Aufschrift „Gute Zeiten – Nazis fighten“. Gibt es also doch ein Rettung?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.