Ein Bergmensch an der Ostsee – in Weiten von Wasser und Himmel

Ahrenshoop und Kurgäste

Eine junge Frau geht zum Strand. Das fällt auf. Der weit überwiegende Teil aller Menschen hier sind Gäste im reifen Pensionsalter. Einige kommen von dem Kurhotel, das aussieht wie ein großes Kreuzfahrtschiff und in dem die Kurgäste wahrscheinlich wie Kreuzfahrtschiffsmenschen sich fühlen können mit Blick auf die Weite der heute tiefblauen Ostsee mit weißen Schaumkronen darauf. Langeweile ist auf viele Gesichter geschrieben. Vielleicht auch war ihr Leben weniger weit als die Weite des Meeres, weniger blau als das Blau des Himmels – und grenzenlose Weite von Meer und Himmel schenken etwas vom grenzenlosen Glück. Nie will ich aber über andere urteilen, will selbst leben in der Weite von Himmel und Meer. Ins leicht wellige Wasser gehen nur wenige. Ins Meer hinaus ist der Strand mit Wellenbrechern aus Holzpfählen geteilt. Sie heißen hier Buhnen und das Schwimmen in ihrer Nähe soll lebensgefährlich sein. In der Früh kamen ein paar Gäste vom nahen Hotel mit weißen Bademänteln, die sie auf einen der geschlossenen Strandkörbe legten, um dann für ein paar Minuten im kalten Wasser Schwimmbewegungen zu machen.

Das Dorf Ahrenshoop hat eine eigene Geographie. Wir wohnen auf dem höchsten Punkt des Ortes, dem Seeberg. 14 Meter Seehöhe. Man kann auf der schmalen Landzunge in ein paar Minuten zwischen dem Meer im Nordwesten und dem Bodden, einer großen Lagune, im Südosten wechseln. So streckt sich die Ortschaft auch langgezogen in einer Ost-West-Richtung. Das Wasser der Ostsee mit 15 Grad ist kalt, das Wasser in der Lagune hat 24 Grad. Ausprobiert habe ich letzteres nicht. Auch in Ahrenshoop sind viele der traditionellen Häuser mit dicken Strohdächern bedeckt, auf deren Giebeln manchmal ein doppelter Rosskopf ist, der an das Raiffeisen-Logo erinnert.

Aggression mit Folgen

Es war gestern nach der Tour mit S. Die beiden Bürgersteige links und rechts der Straße waren voll gemütlich-gelangweilter Spaziergänger. Ebenso am gepflasterten Radweg. Radfahrende werden ohnehin fast massenweise in den Ortschaften von der Straße auf zu enge und holprige Radwege verdrängt. Wir mussten ohnehin abbiegen und wählten daher auf den letzten Metern die Straße. Bei der Abbiegung zu unserem Haus wartete ich auf meinen Freund. Dann sah ich, wie ihn ein Autofahrer hinter mir wild beschimpfte und S. argumentierte laut zurück. Ich hatte im Rucksack noch Bier und Mineralwasser. Ich wollte S. unterstützen und gestikulierte dem wildgewordenen Mann mit seinem fetten weißen Auto, er solle verschwinden. Anstatt dies zu tun, stieg er aber in das Auto, fuhr auf mich zu und ich bekam es mit der Angst zu tun, als er rief: „Jetzt zeig‘ ich es dir …“ Er sprang aus dem Auto und lief in meine Richtung. Vor lauter Schreck machte ich eine abrupte Bewegung – meiner heilenden Schulter hat dies nicht gutgetan. „Du feige Sau, schrie er mir noch nach …“

Nationalpark

Küstenwald und Küste, die weitläufig als Nationalpark geschützt werden. Durch den Wald aus Kiefern, Buchen oder Birken, wo dicker und hoher Farn sprießt, führen Wege. Auf den Wegen sind Radfahrende unterwegs – die meisten mit E-Bikes, manche mit jenen Rädern, die den physikalischen Grundgesetzlichkeiten der kinetischen Energie von Masse, Gewicht und Geschwindigkeit zu widersprechen scheinen. Mein Rennrad ist wohl auch nicht das am besten geeignete Fortbewegungsgerät für die holprigen Wege. In den Ostseebädern drängen sich dann die Menschen um kleine Verkaufsläden. Cafes laden zum Verweilen ein. Die Sandstrände sind herbstlich leer. Die typischen Strandkörbe sind abgeschlossen. Ich mag den Sand zwischen den Zehen, das Salz des Meeres auf der Haut und das sanfte Rauschen der Wellen. Weiter draußen war eine Sandbank mit Dutzenden Kormoranen, die im Respektabstand von Touristen mit Ferngläsern und teils stattlichen Fotoapparaten beäugt werden. Die Welt wäre so schön, würde sie nicht kaputtgemacht von todbringenden Strukturen, von egoistischer Gier, von mitleidslosen aggressiven Grundeinstellungen.

Es gibt aber auch die andere Seite: Ein älteres Ehepaar, das bei einer Radpanne anhält und nachfragt, ob sie helfen könnten. Tatsächlich, er hat einen Pannenspray dabei, eine milchige Flüssigkeit, die ins Ventil eingeführt wird, eine Gaspatrone, die im Rekordtempo den Reifen prallvoll werden lässt. Mehrere Dutzend Menschen sind vorher vorbeigefahren. Wir treffen uns einen Tag später zufällig wieder. Er ist Orthopäde und sie ist Physiotherapeutin. Zufällig? Auch Albert Einstein weilte im frühen 20. Jahrhunderten einmal mit seiner Cousine in Ahrensdoop. „Gott würfelt nicht …“, hatte der große Pazifist eine komplexe Wirklichkeit in drei Worten genial zusammengefasst. Es gibt keine Zufälle. Alles Tun ist mit anderem vernetzt, jedes Ereignis hat Ursache und Wirkung: Was als Schicksal bezeichnet wird, birgt in sich auch Hoffnung, durch eigenes Verhalten und Tun Gutes zu bewirken und damit im Netzwerk dieser Welt ein Schmetterlingsflügelschlag sein, der irgendwo und irgendwie anderes besser sein und fühlen lässt.

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