Behaustes Leben und behauster Glauben
20.9.2024: Das Haus auf dem Schifferberg in Ahrenshoop, in dem wir Gäste sein dürfen und das uns füreinander sorgende Gemeinschaft ermöglicht, ist eines jener alten Häuser: Aus Holz gebaut, mit Brettern und Fensterläden, die mit bunten und kräftigen Farben rot-weiß-blau bemalt sind, und einem steilen Strohdach, das im Giebel mit zwei Rossköpfen abschließt. Blau-weiß-rot: wie die Landesfarben von Mecklenburg-Vorpommern. In Häusern des Lebens kann Glauben gelebt werden.
Mich interessieren stets auch die anderen Häuser des Glaubens. Gleich neben unserem Haus ist die evangelische Schifferkirche. Sie ist wie ein hölzernes Schiff, das kieloben steht, gefertigt aus den traditionellen Baumaterialien aus dieser Gegend und daher auch mit einem Dach aus Stroh. In dieser Kirche zu sitzen, schenkt Geborgenheit. Auf einer Radrunde lehnte ich einmal, inmitten der Weiden entlang der Lagune, mein Rad an die Backsteinwand einer einsamen Kirche. Sie erzählt mit ihrem typischen Inneren, den bilderlosen Wänden, der großen Orgel auf der einen Seite und der Komposition von Taufbecken-Altar-Kanzel von dem Sola-Scriptura-Sola-fide-Sola-gratia-Prinzip der Kirche Martin Luthers. Und in Ribnitz zog mich die große Stadtkirche St. Marien in ihr Inneres. Der Backsteinbau ist – obwohl mehrmals um- und wiederaufgebaut – deutlich noch als mittelalterliche Hallenkirche erlebbar. Im Westteil der Kirche wurde eine abgetrennte Winterkirche eingebaut, in denen die Gemeinde in einem geheizt-behaglichen Raum – der doch Teil der großen Kirche geblieben ist – miteinander reden und feiern kann. Manchmal sind es die kleinen Akzentsetzungen, die mir wichtig sind. Beim Ausgang der Kirche hängt ein Netz mit vielen Kranichen daran, die aus Papier gefertigt worden sind. Es geht zurück auf das Mädchen Sadako. Nach alten japanischen Vorstellungen bekommt der einen Wunsch erfüllt, der 1000 Kraniche faltet. Das Mädchen Sadako, das durch den US-amerikanischen Atombombenabwurf auf Hiroschima an Leukämie erkrankte und auf Genesung hoffte, faltete unablässig Kraniche. Auch heute, so will es die Gemeinde von St. Marien, sollen Menschen den Kriegsdient verweigern und soll gegen Militarisierung und Ungerechtigkeit protestiert werden. In meiner betenden Sehnsucht möchte ich Tausende Kraniche falten, damit endlich die Kriege in Nahost und in der Ukraine enden.
Latent und offen aggressiv
21.9.2024: Wie oft musste ich in den letzten Tagen hier im ganz im Nordosten Deutschlands eine aggressive Grundstimmung vieler Menschen erleben? Einmal so massiv, dass sie bei mir zu einer körperlichen Verletzung führte, als ein Autofahrer aus dem Auto sprang und mich zusammenschlagen wollte. Autofahrende Menschen, die ohne Grund hupten, wenn sie sich in ihrer freien Fahrt eingeschränkt fühlten – und auch jetzt im Zug der Grant einer Frau, weil ihr nicht sofort ein Sitzplatz freigemacht wurde. Damit mein Urteil nicht als Pauschalurteil über hier lebende Menschen wird, gilt sicher: Es sind einzelne Menschen, die so voll negativer Energie sind, nicht die Ossis. Und doch machte es mir in den letzten Tagen immer wieder Angst, so eine Aggressivität abzubekommen, und ich begann schon in den wenigen Tagen im Osten Deutschlands, mich verschreckt zu fühlen.
Herbstzugfahrt durch Deutschland
22. 9. 2024: Astronomischer Herbstbeginn. Sonntag. Flach scheint die Morgensonne über die ebenen Flächen mit den großen Feldern. Noch im Dunkel des Herbstmorgens ging es zum Bahnhof. Knappes Umsteigen mit Irritationen. Von Ribnitz nach Rostock. Umsteigen. Nach Neustrelitz. Umsteigen. Weiter geht es nach Berlin. Umsteigen. Und dann von Berlin bis München ohne Umsteigen. Und in München wieder umsteigen. Also macht dies in Summe: viermal umsteigen. Das Umsteigen macht mir nichts. Das Zugfahren liebe ich. Das ist wie Entschleunigung. Zeit zum Landschaftsschauen. Zeit zum arbeitenden Schreiben und Lesen. Wahrnehmen von anderen Menschenwirklichkeiten. Zeit zum Reden. Wieder klappt der Transport mit den in schwarzen Nylontaschen verpackten Rennrädern problemlos. Wenn nur die verletzte Schulter nicht wäre, wäre es doch um vieles leichter. Doch es gibt vor allem: kraftschenkende kräftig-bekräftigende Begleitung. Abgeerntet goldbraun sind die stoppeligen schier endlosen Weizenfelder; braun-zerfurcht die nicht weniger kleinen Äcker; von Wiesen und Weiden steigen nebelige Wolken auf. Landfläche in Hülle und Fülle. Sonntagmorgenstimmung. Herbststimmung. Übergangsstimmung. Zuerst durch das noch verträumt erwachende Mecklenburg-Vorpommern, dann Brandenburg – wo an diesem Sonntag spannende Landtagswahlen sind, dann ein schon hektisches Berlin – ein schnelles Umsteigen ist hier notwendig, dann Sachsen-Anhalt mit historisch so bekannten Orten wie Wittenberg, dann Sachsen mit Leipzig, dann Thüringen mit Erfurt und schließlich das große Bayernland. Nirgends gibt es Verspätungen. Der Zug ist im Gegenteil überpünktlich und hält in Nürnberg gar 20 Minuten, um wieder in den Fahrplan zu kommen. München ist seit gestern im Oktoberfestmodus. Am Bahnhof – der von Polizeikräften schwer bewacht ist – sind hunderte Menschen in Lederhosen- oder Drindltracht und viele von ihnen gehen nicht mehr gerade und haben Augen, die von zu viel Alkohol erzählen. Es ist eine mir fremde und seltsam erscheinende Welt: Trotzdem gönne ich mir in der Wartezeit auch ein Oktoberfestbier plus Laugenbreze. Erst im Zug nach Innsbruck meint die Schaffnerin, dass im grenzüberschreitenden Eurocity-Verkehr die Mitnahme von eingepackten Rädern nicht mehr erlaubt sei. Sie zeigt den entsprechenden Verordnungstext. Im Wagon sind kaum Leute und es gibt kein Problem für das Abstellen der Radsäcke. Ich wollte die Schaffnerin schon fragen, ob sie nun nach ihrem vernunftgeleiteten Gewissen handeln möchte oder einer stupiden Bahnverordnung. Sie entscheidet sich dann aber von selbst schon für Ersteres. Das Hochladen der Fahrkarte auf den Interrail-Pass auf die App am Smartphone ging problemlos.
In meiner Seele gespeichert sind das Erleben von unberührten Küstenwäldern und langen Sandstränden, das Rauschen der Wellen der Ostsee und ihr Sand und kühl-salziges Wasser, die Boddenlandschaften und alten Fischerdörfer, die heute Touristenorte sind, die Kurgäste mit weißen Bademänteln, die romantischen Sonnenuntergänge, heilsame Begegnungen – aber auch die schmerzhafte Erfahrung menschlicher Aggressivität.