Keinen besseren Platz gäbe es wohl, als unter dem Schutz der Mirjam von Nazareth, der Maryam ibn Isa, der Mutter Jesu bei der Donnerstagsdemo gegen die rechtspopulistischen Verirrungen zu stehen. Hoch über den Köpfen der Demonstrierenden, gut bewacht von Dutzenden Polizeikräften, steht sie auf der Annasäule am zentralsten Punkt Innsbrucks. Öfters zieht es meinen Blick nach oben zu ihr, während unten warnende Reden gegen die rechtsextremen Entwicklungen im Land gehalten und revolutionäre Lieder gesungen werden. Bald schon würde die goldene Mondsichel der Immaculata vom Jahrundertvollmond beschienen werden. In meiner Phantasie male ich mir aus, was die palästinensisch-jüdische Frau wohl sagen würde, wenn sie ihren Platz auf der Spitze der korinthischen Säule verließe, die rosarote Marmorsäule gut 13 Meter hinunterkletterte – die vier Putten eigneten sich ideal für Klettergriffe – und dann mit Hilfe ihrer Mama Anna am Podest zur Rednerbühne ginge.
Es genügte wohl, wenn die biblische Maria wiederholte ihren revolutionären Gesang, den ihr der Evangelist Lukas in den Mund legte, was wohl auch deswegen passte, weil es der Vorabend zum Evangelistenfest Lukas ist. (Lk 1,46b-55) Dort heißt es: „Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Maria könnte mit solchem Verse anknüpfen an einen der Vorredner, der von den zunehmenden Schikanen für die Armen und insbesondere Wohnungslosen in unserem Land sprach. Gesprochen wurde auch davon, dass im Druck des Rechtspopulismus sich christlich nennende Großparteien Menschenrechtsstandards aufweichen würden. Maria könnte dann ihren Sternenkranz mit 12 goldenen Sternen darin von ihrem Kopf nehmen und sich auf ein anderes Gebilde aus 12 Sternen beziehen. Das Dreierverhältnis Maria-Josef-Jesus steht laut biblischer Überlieferung für eine Flüchtlingsfamilie. Die Demo gegen Rechts findet am Tag des EU-Gipfels in Brüssel statt, bei dem der österreichische Regierungschef von einem notwendigen Paradigmenwechsel sprach, auf dem der polnische Ministerpräsident Tusk offen das Asylrecht auszuhebeln ankündigte, was für Viktor Orban längst gängige Praxis ist. Mirjam, was übersetzt „die Widerspenstige“ heißt, würde wahrscheinlich dies als erstes Beispiel für den gefährlichen Rechtsruck in Europa benennen, an einem Tag, an dem wieder ein Flüchtlingskind im Atlantik vor den Küsten Europas ertrank, während die EU-Staatschefs sich gegenseitig versprachen, die Grenzen noch dichter zu machen. Meine Phantasie über Maria als Demorednerin wird lebendig und ich stelle mir vor, wie nun die steinernen Statuen von Kassian und Vigilius, die links und rechts am Fuß der Säule stehen, sich nun wie in einem Film zu lebendigen Menschen verwandelten und sich mit ihren bischöflichen Stäben links und rechts von Maria stellten. Die Diözesanpatrone würden wohl das tun, wofür sie ihr Leben einsetzten: Von Jesus erzählen, der sich kompromisslos auf die Seite der Verarmten und Entrechteten stellte und zeigte, wie Menschen in Solidarität miteinander glücklich und lustvoll leben könnten. Maria würde ihr Befreiungslied weitersingen mit der Ansage: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ All dies würde freilich ganz ohne Gewalt geschehen, die das weltpolitische Geschehen gerade so zerstörerisch prägt. Ich stelle mir vor, wie Maria an die Südseite des Podestes treten würde, wo Georg dargestellt wird, der gerade den Drachen mit seinem Spieß tötet. Maria würde symbolisch wohl den Spieß zerbrechen. Es gelte, die Feinde zu Freunden zu machen, nicht aber sie zu töten, es gelte, das Böse mit dem Guten zu bekämpfen. Diese Welt wird nicht von Heroen gerettet, die mit Gewalt Böses zu bekämpfen versuchen. Die Heilige Anna am Fuß der Säule hätte inzwischen längst schon ihren Platz bei den „Omas gegen rechts“ gefunden. Die Oma von Jesus hat über ihrem weißen Schleier eine rote Strickmütze aufgesetzt. Alle zusammen – die sich hier verbunden haben gegen die gefährlich rechtsradikalen und demokratiefeindlichen Kräfte – singen dann zur Melodie von Bella Ciao mit neuem Text „Den Rechtsruck bannen wir zusammen / Drum sein mir da, …“ Maria und Anna, sie singen kräftig mit, bevor sie wieder auf ihre Plätze klettern.
Die Säulenheiligen wissen, warum sie sich heute beteiligten, sahen sie doch an eben diesem Ort in den Märztagen des Jahres 1938, wie SA-Männer und andere Hitleranhänger die Maria-Theresien-Straße zur ihrem Aufmarschgebiet mit Gewalt eroberten. Maria auf der Annasäule musste mitansehen, wie schon vor dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland aus den Fenstern der Prachthäuser in der Maria-Theresien-Straße Hakenkreuzfahnen wehten und in den Lokalen jenes Deutschlandlied gesungen wurde, das noch heute die Burschenschafter-Abgeordneten der „Freiheitlichen“ so gerne singen. Maria auf der Säule war Zeugin, als am 5. April des Jahres 1938 der Volkskanzler mit seinem Adjutanten Himmler die Gauhauptstadt besuchte und begleitet von Schützenkompanien und Musikkapellen und umjubelt von Tausenden vom Gauhaus durch die mit Hakenkreuzfahnen verunzierte Maria-Theresien-Straße zum Adolf-Hitler-Platz vor dem Landestheater zogen. Maria könnte auch die Täter nennen, die ein paar Monate später in der Reichspogromnacht die Scheiben der jüdischen Geschäfte einschlugen und schlimmer noch, einige jüdische Bürger in den Innauen bestialisch ermordeten. Jene Täter waren schlagende deutsche Burschenschafter. Am Ende der Demo blicke ich nochmals zu Maria hinauf. Hörte ich sie hinunter rufen „Nie wieder!“?