Mit Gedanken an den Novemberpogrom durch Innsbruck gehen

In diesen kalt-kühlen Novembertagen, wenn buntgefärbte Blätter von einem vergangenen Sommer erzählen, wenn die Fallwinde von den Bergen Tränen im Heute trocknen, wenn Gefühle und Gedanken durcheinander wirbeln wie die Blätter am Boden einer Kastanienbaumallee, ein Rascheln, das etwas den Lärm der Verbrennungsmotoren schluckt, ein Duft nach Herbst, der etwas den Gestank von Autoemissionen vergessen lässt, in solchen Tagen mache ich manchmal bewusst einen Spaziergang durch die Stadt, die mir als Heimat zugedacht wurde. Dann erzählen mir Gebäude und Tafeln von gestern und meine Gedanken verbinden ein Gestern mit einem Heute, einem Hier mit einem Dort und ich verwickle mich in einem Geflecht von Gedanken und Gefühlen. Es ist auch eine Stadt, die mir von der Geschichte der Juden und Jüdinnen erzählt.

Am Abend, an dem an die Pogromnacht erinnert wird, die besonders schrecklich auch in Innsbruck wütete, sind wir beim Pogromdenkmal in Innsbruck. Es waren junge Menschen, die dieses Denkmal vorschlugen, es war ein 19-jähriger Schüler der HTL-Fulpmes, der das Erinnerungsmal entwarf. Ich denke an den Pogrom vor 86 Jahren und denke an die widerlichen Ausschreitungen in Amsterdam vor gerade einem Tag, denke an den Genozid am palästinensischen Volk in Gaza, denke an die Schreckenstaten der Terroristen der Hamas, an die weit mehr als 1300 bestialisch Ermordeten und lege meine Hand auf die stilisierten Kupferscherben in der Schale, aus der die siebenarmige Menora in den dunkel-schwarzen Herbsthimmel ragt. Ich lese die vier Namen der in der Pogromnacht 1938 ermordeten Juden und die Tafel darunter: „ … um nicht zu vergessen, dass in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, Reichskristallnacht-Novemberpogrom, jüdische Mitbürger in Innsbruck ermordet wurden und ihnen viele Kinder, Frauen und Männer in den Tod folgen mussten … um nicht zu vergessen, dass Vorurteile, Hass und Unbesonnenheit zu einer grausamen Spirale der Gewalt führen können … wurde dieses Mahnmal 1997 errichtet.”  Nach der Schreckensnacht des 9./10. November 1938 gab es noch weitere 160 jüdische NS-Opfer aus Tirol. Wenn ich von „der grausamen Spirale der Gewalt“ lese, sind mir wieder die Bilder letzten Monate ganz nahe, die Bilder aus Gaza, von Menschen, die zu Abertausenden aus einer Stadt fliehen, die mit Raketen in einen Trümmerhaufen gebombt wird, aber auch jetzt die Bilder aus Amsterdam, als ein Mob die israelischen Fußballfans jagte.

Ich gehe durch eines der überdimensionalen Tore des Befreiungsdenkmals am Landhausplatz. Warum steht es heute offen? Ich lese einige der 124 Namen von Personen, die auf beiden Seitenwänden des Denkmals stehen, von Menschen, die dem Naziterror widersprachen, die im Widerstand waren. Etliche dieser Biographien boten mir als Lehrperson Stoff, um in vielen Schulstunden mit Schülerinnen und Schülern die Geschichte des Widerstands zu erarbeiten. Die Biographien reichten aus, um in fünf Schulklassen je einem Schüler oder einer Schülerin eine der am Denkmal genannten Personen zuzuordnen. Da sind die Bekannten dabei wie Franz Reinisch, erst jüngst legte ich drei Steine und eine kleine Rose auf seine Gedenkstätte hinter der Wiltener Basilika. Er verweigerte als katholischer Geistlicher den Dienst in der Armee. Ich denke an die Kriegsdienstverweigerer heute – die Kriegsdienstverweigerer in Russland oder der Ukraine oder in Israel, an Männer und Frauen, die sich weigern, an Vernichtungskriegen teilzunehmen. Stunden um Stunden könnten wir uns nun vergegenwärtigen die Männer und Frauen, die heute mit Kupferbuchstaben auf der weißen Wand des Denkmals verewigt sind, die Wehrkraftzersetzer wie Stefan Valeninotti, ein einfacher Arbeiter aus Südtirol, einer der Optanten, der von einer neuen Heimat träumte und im Schrecken des NS-Regimes aufwachte, das ihn als „Wehrkraftzersetzer“ hinrichtete.

Das Neue Landhaus in Innsbruck erscheint mir angesichts dieser Geschichte nochmals widersprüchlich-bedrohlicher mit seiner so charakteristischen NS-Bauweise, mit der pompösen Herrschaftsarchitektur. Noch vor wenigen Wochen sah ich die Ausstellung, die die Geschichte des einstigen Gauhauses thematisierte. Heute flattern im Herbstwind die Flaggen Tirols, Österreichs und der EU vor dem Portal, das 1939 der Reichskanzlei von Berlin nachgebaut wurde.

Die grellen Neonlichter des Einkaufszentrums Kaufhaus Tyrol ziehen an diesem Samstagabend noch immer die Menschen an wie Nachtfalter, die sich betört vom Licht einer Lampe der natürlichen Reflexe nicht mehr besinnen können. Die Glitzerwelt ist noch immer im Besitz der milliardenschweren Signa-Gruppe rund um René Benko. Die letzten Tage haben einmal mehr gezeigt, wie die Gesetze des Kapitalismus funktionieren. Aber das interessiert die Tausenden wohl nicht, die mit gefüllten Einkaufstaschen ins Dunkle hinausgehen. Unbeachtet von den Massen bleibt jene Gedenknische, in der sich eine kleine Kupfer-Tafel neben einem Bankomat befindet. „Kapitalistisch gereinigte Erinnerungskultur“ hat Horst Schreiber diese Nische einmal treffend bezeichnet. Nicht Benko gehörte einst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor dem NS-Terror dieser Ort. Hier war das Warenhaus Bauer & Schwarz. Es waren jüdische Kaufleute, die nach der Machtergreifung durch die Nazis in den Konkurs getrieben worden sind. Auf den Schaufenstern stand mit weißer Kalkschrift „Jude“ und Menschen grölten „Wer beim Juden einkauft, ist ein Verräter!“ Das Geschäft wurde arisiert. Eine wirkliche Entschädigung hat es nie mehr gegeben.

Bei all diesen Geschichten, die ins Heute weiterwirken, tut es gut, von Menschen begleitet zu werden, mit denen eine andere Geschichte geschrieben werden kann. Wo gemeinsam geträumt und gehandelt wird, damit Menschen sich nicht mehr weh tun, sondern sich achten in ihren Verschiedenheiten, sich schätzen in ihren Eigenheiten, sich versöhnen können nach Streit, sich um Gerechtigkeit bemühen, wo Ungerechtes herrscht, sich trösten, wo jemand traurig ist, miteinander lachen, weil es auch so viel Schönes im Leben gibt, das hier und heute gefeiert werden kann.

Klaus Heidegger,

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