Hoch über dem sich biegenden Inntal am Krahberg des Venetmassivs

Schaute ich viel früher in meinem Leben vom Ursprungsheimatort Prutz auf den Venet, so war diese Bezeichnung stets genau und ungenau zugleich. Den Venet als Gipfel gibt es eigentlich nicht. Der Venet ist ein eigener Gebirgsstock mit unterschiedlichen Gipfeln. Was ich sah vom Haus aus, in dem ich groß wurde, war vor allem die höchste Erhebung mit der Glanderspitze. Anders als die südlich vom Venet beginnenden Gipfel des Kaunergrats haben die Venetgipfel nicht die zackig-steile Felsstruktur ihrer Nachbarn. Sie sind von den längst vergangenen Eiszeitgletschern abgeschliffen. Der Inn macht seit erdgeschichtlichen Zeiten eine Drehung um den Gebirgsstock und fließt nun nicht mehr von Ost nach West, sondern hinein in die Schweiz in süd-westlicher Richtung. Der Venet ist also ein Innrichtungswechselbergmassiv. Die Menschen haben seit einiger Zeit durch ihn einen sechs Kilometer langen Tunnel gegraben, damit sich die stinkend-lärmenden Autokolonnen nicht mehr durch Landeck stauen müssen.

Von Zams weg führt der Ladner Steig direkt hinauf auf die nord-östlichste Erhebung des Venet, den Krahberg. Dort hinauf geht auch die Gondelbahn, die aber – ja erraten – nicht Krahbergbahn sich nennt, sondern Venetbahn. Allerdings ist sie seit einiger Zeit renovierungsbedürftig und niemand weiß so recht, wer dafür die Kosten tragen soll. Jetzt im frühen Morgen im späten Herbst ist es noch bitterkalt und der Steig ist gefroren. Rechts vom Aufstieg hat sich der Zammer Bach ein romantisches Bett gegraben und das Wasser fließt und hüpft über die Felsen, die links und rechts mit Moosen und Farnen bewachsen sind. Mehrmals quert der Steig eine Forststraße. Ab der Zammer Skihütte folgen Wiesenhänge, die zu Skihängen wurden. Schneekanonen und Schneelanzen warten auf ihren Einsatz. Die großen Sendeanlagen vom Krahberg sind doppelt irreführend: Zum einen kann man sich gleich oben wähnen und zum anderen geht der Steig aber nicht direkt hinauf, sondern windet sich in einem Bogen weiter östlich davon hinauf auf den breiten Rücken mit der Bergstation, dem Berghotel, dem Restaurant und der Sendestation. Tief unten glitzert der Inn und liegt das Dorf, wo ich frühmorgens mit dem Rad aufgebrochen bin. Die Gegenwartkapelle am höchsten Punkt vom Krahberg ist ein künstlerisches Highlight. Erdacht und entworfen wurde sie von Herbert Traxl, dem ehemaligen Pfarrer von Zams. Die äußere Struktur der kleinen Kapelle gibt die Formensprache der umgebenden Bergwelt wieder. Statt Granit- und Schieferblöcken, mit denen die Berge aufgeschichtet wurden, sind es in dieser Skulptur Spritzbetonelemente, die sich spielerisch leicht zu einem religiösen Ort aufschichten. In der Kapelle selbst können gerade zwei Menschen auf einem Holzschemel Platz nehmen. Dann kommt auch das große Glasfenster zur Geltung. „Ich bin da“ steht auf einem dreieckigen Element. Der Gottesname. Mehr ist in der Kapelle nicht zu finden. Es ist, als genügte diese eine Botschaft des Gottesnamens: Ich bin für dich da. In der Kapelle sitzend spüre ich die Dankbarkeit, wenn ich in göttlich-menschlicher Nähe dieses „Ich bin da“ erfahren kann und wenn ich selbst für andere Menschen diese religiöse Grunderfahrung sein darf.

Gerne wäre ich noch weiter gegangen zu den weiteren Gipfeln des Venetmassivs. Beim Abstieg hinunter nach Zams leuchten die Lärchen noch goldgelber, strahlt das Grün von Moosen und Farnen noch grüner, flimmert das Wasser im Zammer Bach noch stärker und zeigt der Riffler im Westen noch mehr seine klassisch ästhetische Form. Natur stärkt und verwandelt für Wandlungen, die immer in einem Loslassen und Annehmen bestehen.

Klaus Heidegger, Martinitag 2024

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.