Je früher desto lieber, denke ich mir: so geht es mit Stirnlampe die ersten Kilometer hinaus aus der Stadt, die noch im Sonntagsmorgenschlaf ist. Mein Vormittagsziel ist einer der beliebtesten Rennradklassiker von Innsbruck aus, bei der einige Varianten möglich sind. Ich wähle heute die kürzeste davon: Bis Kematen ein gemütliches Einrollen. Beim Eingang zum Sellraintal steht dann die erste Tafel, die darauf aufmerksam macht, dass dies ein Eldorado für Rennradfreaks ist: Es geht die Ostanfahrt hinauf. Zu früher Morgenstunde gibt es noch keinen Ausflugsverkehr. Die Motorräder werden erst später das Bergtal mit ihrem Lärm füllen. Am Eingang vom Tal ist die Baustelle für das neue Laufkraftwerk, das umweltfreundlich in den Berg hinein gebaut wurde und bald saubere Energie aus der Kraft der Melach liefern wird. Während ich die eigene Kraft beim Treten spüre, die Kraft der schäumenden Melach höre und an Situationen denke, die mich kräftigen oder mir auch Kraft nehmen, denke ich über die vielen Polit-Diskussionen der letzten Zeit, in denen es darum ging, wie Österreich seine Energiesicherheit aus heimischer Versorgung aufbauen könnte. Hier, am Eingang zum Sellraintal, ist eine Antwort. Sieben Gemeinden haben sich zusammengetan, um mit der Wasserkraft vor Ort ihren eigenen Strom zu produzieren. Ich kenne die Gipfel links und rechts des Tales von vielen Skitouren – aber nicht von sommerlichen Begehungen. Die steilen Rampen nehme ich im Wiegetritt. Am Himmel ein Wolkenspiel. Kühtai verspricht tatsächlich immer Kuhkontakt: Von Kühen, die auf der Straße gehen, weil es eben bequemer ist, über die Kuhfladen, mit denen der Asphalt verziert wird. Bei einer kleinen Eselherde bleibe ich stehen. Ein brauner Esel schätzt die Streicheleinheiten von mir und presst seinen warmen, kräftigen Körper an meinen. Almengefühl. Die 23 Kilometer vom Start in Kematen weg bis zum Kühtaisattel gehen fast ohne Kurven und Kehren 1419 Höhenmeter hinauf. Von dort, auf 2020 Meter, ein paar Meter hinunter zur Versorgungsstraße, die hinauf zum Finstertaler Stausee führt. Von unten wirkt die Staumauer riesig. Tatsächlich, so habe ich es irgendwo gelesen, wurden für die Dammschüttung 4,4 Millionen Kubikmeter Material verwendet, was die Menge von 2 Cheopspyramiden ausmacht. Allein mit dem natürlichen Zulauf würde es 10 Jahre dauern, um den Hauptspeicher zu füllen. Allerdings wird das Wasser vor allem vom darunter liegenden Zwischenspeicher Längental hochgepumpt. Es sind noch einmal 370 Höhenmeter von Kühtai bis zum See, die sich mehrfach bezahlt machen. Kurz vor der Dammkrone windet sich die Straße in einer Schleife durch einen kurzen, beleuchteten Tunnel. 2340 Meter. Dammkrone der Staumauer. 45 Kilometer waren es von der Haustüre weg und 1940 Höhenmeter. Panoramablicke in jede Richtung. Auch wenn der Finstertaler See ein Stausee ist, so wirkt er inzwischen sehr natürlich eingebettet in die wunderbare Bergwelt der Stubaier Alpen und leuchtet im Vormittagslicht tiefblau. Lange sitze ich da, schaue und staune – und hätte Lust, auf den nahen Gaiskogel hinauf zu gehen oder zu einem der anderen Seen in der Umgebung. Aber das wird wohl eine andere Geschichte werden.