Dem Abwerzger-Gift davonfahren wollen
Um halb sechs Uhr morgens ist es jetzt im späten August noch dunkel. Meine LED-Lampe beleuchtet etwas Schändliches. Bei der Ausfahrt von Innsbruck Richtung Völs ist in den letzten Tagen eine Flut von XXL-Wahlplakaten montiert worden. Eines davon schreckt mich zu so morgendlicher Stunde besonders auf. Ich frage mich, ob ich nicht doch noch im Bett liege und einen Alptraum habe. „ABFLUG statt ASYLBETRUG!“ steht da in dem typischen plumpen FPÖ-Reimschema mit übergroßen Buchstaben. Und in einem Balken mit Schockfarbe Rot heißt es: „Kein Platz für kriminelle Asylanten!“ Im Hintergrund ist ein startendes Flugzeug. In genau einem Monat werden die Tiroler Landtagswahlen sein. Die FPÖ mit ihrem Parteichef haut menschenverachtend mit dem populistischen Dreschflegel um sich und ich spüre in mir die Wut über diese Partei, die auf einem anderen Wahlplakat für „Friede. Freiheit. Wohlstand. Sicherheit“ eintritt. Jedenfalls gelten diese Werte aus FPÖ-Sicht wohl nicht für einen großen Teil der Menschen, die in unserem Land leben oder Schutz suchen. Ich trete schneller in die Pedale, so als könnte ich dem Abwerzger-Gift und seiner Partei davonfahren, doch es wird mich auf der Fahrt durch das Inntal weiterhin mit Sprüchen begleiten. Erst jüngst zeigte sich der Tiroler FPÖ-Chef schockiert über die hohe Zahl der Muslime in Österreich, sprach von einem „Bevölkerungsaustausch“ und forderte für die nächste Tiroler Landesregierung einen eigenen Landesrat für Remigration und Rückführungen. Das Framing von „Asyl“ mit „kriminell“ ist aus FPÖ-Kreisen vertraut, das mit Hinweisen auf die Verbrechensstatistik genährt wird. Am liebsten würde ich weiterfahren bis Galtür und dem ÖVP-Chef Anton Mattle für seine klare Haltung, mit dieser menschenverachtenden FPÖ keine Koalition einzugehen, ein Dankespräsent überreichen.
Durchs Oberinntal von Völs bis Imst
Meine heutige Begleiterin auf dem Rennrad ist motiviert und trainiert. Ab Kematen wechseln wir uns mit Windschattenfahren ab. Rotgolden leuchten die Berge des Wettersteins und der Tuxer Alpen in der aufgehenden Sonne, die mir etwas Optimismus schenkt. Von Telfs bis Mötz nehmen wir die Bundesstraße, dort zweigen wir dann auf den Radweg ab und fahren autobefreit am Inntalradweg entlang der Felder, Obstbaumkulturen und Auwälder und dann durch die Imster Schlucht bis zum Bahnhof in Imst. Der Himmel ist tiefblau und Regen und Gewitter wird es nicht geben. Die Strecken in einer relativ unberührten Naturlandschaft mag ich immer am liebsten. Die Fahrt ist kurzweilig und wir treten piano. Viele Höhenmeter warten auf uns, die in Imst beginnen.
Piller
Aus dem Pitztal kommt Pendlerverkehr. In das Pitztal hinein beginnt der Ausflugsverkehr. In Wenns ist die Abzweigung zur Pillerhöhe. Die gesamte Strecke ist mir vertraut. Es gibt wohl kaum eine Jahreszeit oder Wettersituation, die ich hier am Piller nicht schon erlebt hätte bei meinen Heimatbesuchen. Am liebsten ist mir die Strecke im Frühling, wenn oben auf 1600 Meter Seehöhe der Schnee zum Schmelzen beginnt und die Frühlingsblumen in einer großartigen Pracht hervorbrechen. Heute ist es warm. Die Bergwiesen haben die letzte Mahd hinter sich und das frische Gras konnte in den vielen Sonnentagen gut trocknen und duftet dort, wo es gerade zusammengerecht wird. Zu oft allerdings mischt sich in den Bergheuduft das Gestank von lärmenden Motorrädern und Autos, die die kleine Passstraße als eine Art Rennstrecke nützen. Manchmal bin ich geneigt, etwas mehr in der Straßenmitte zu fahren, um sie etwas im Geschwindigkeitsrausch abzubremsen. Schnell sind wir oben auf der Passhöhe bei 1600 m und am Gacher Blick machen wir einen kurzen Stopp, um die Weite zu bestaunen, die sich von da oben auftut: im Süden hinein ins Kaunertal, im Südwesten ins oberste Inntal bis nach Südtirol und in die Schweiz, im Norden hinunter in den Talkessel bei Landeck, etliche Gebirgsgruppen mit markanten Gipfeln, der Kaunergrat, der Glockturmkamm, die Samnaun-Gruppe und die Lechtaler Alpen. Unsere erste Müsli-Riegel-Rast machen wir aber erst nach der Abfahrt nach Kauns bei der Burg Berneck. Rund 90 Kilometer sind wir nun gefahren. Der eigentliche Anstieg beginnt aber erst jetzt.
Kaunertal und Kaunertaler Gletscher
Ganz anders als im Reimstil der Klimawandelverharmloser entsteht in meinem Kopf ein Text, während ich die 29 Kehren hinauf zum höchsten Punkt auf 2730 m fahre. Meine Gedanken-Gefühle wechseln hin und her wie die Fahrtrichtung bei den vielen Kehren. Auf der einen Seite ist es dieses großartige, atemberaubende Staunen über die Schönheit der Natur, der Gipfel und Grate, den Duft der hochalpinen Vegetation, der Schönheit des Hochgebirges, die sich mit einem Rad so gut spüren lässt. Auf der anderen Seite ist es das hautnahe Erleben der durch den menschengemachten Klimawandel zerstörten Gletscherwelt. Die Weißseespitze trägt ihren Namen – zumindest von dieser Seite aus – zu Unrecht. Nur mehr eine kleine weiße Haube ist auf ihrem Gipfel. Die Nordwand könnte wohl im Sommer nicht mehr begangen werden. Man hat jetzt im Spätsommer das Gefühl, dass dieser stolze 3500-Meter-Gipfel zerbröselt. Ein paar der Gletscherreste sind mit weißen Folien bedeckt, Liftstützen stehen auf den ausgeaperten Schotterfeldern, die mehr den Charakter einer Industrielandschaft haben als eine hochalpine Gegend. Im hohen Felsgestein der Dreitausender, der Bliggspitze oder der Ölgrubenspitzen, sieht man die vielen Stellen, wo Gerölllawinen herausgebrochen sind, weil der Permafrost auftaut. Der größte Felssturz an der Bliggspitze liegt nun genau zehn Jahre zurück.
Ein sportliches Rennradfeeling kommt dann auf, als wir die vielen Kehren hinunter sausen, die sechs Kilometer entlang des Stausees mit seiner mächtigen Natursteinmauer hinaus gleiten und schließlich das Kaunertal hinter uns lassen. Von Prutz bis Landeck geht es verwinkelt und landschaftlich abwechslungsreich am Radweg bis zum Bahnhof. 3386 Höhenmeter und 173 Kilometer zeigt der Garmin – mit einer Fülle an unterschiedlichen Landschaftseindrücken, die den Tag reich und schön machen und helfen, in dieser und an dieser Welt nicht zu verzweifeln. Da tut es auch sehr gut, nicht allein unterwegs zu sein.