Startpunkt der Tour ist bei der Haltestelle bei den Galerien kurz vor dem Kühtaier Sattel auf 1860 m. Dort weisen gelbe Richtungstafeln auf die ersten Ziele hin. Es geht zunächst hinein ins Klammtal. Mir ist die Gegend bislang nur von den winterlichen Skitouren bekannt. Wir sind heute zu dritt unterwegs. Mein Freund hat vor kurzem die geplante Route gemacht. Ihm kann ich in jeder Hinsicht vertrauen. Schon kräftig rot leuchten die Granten am Wegrand und zeigen den Spätsommer an. Als ich im Frühjahr hier war, blühten dort, wo der Schnee bereits weggetaut war, unendlich viele Krokusse. Meine inneren Monologe, die mich beim Bergsteigen begleiten, drehen sich ums Blühen und Verblühen – durchaus auch Metaphern für Erfahrungen im Leben. Der markierte Pergpfad zieht hinein zur Oberen Zirmbachalm und zum Kreuzjoch, das bei dem ohnehin schon hohen Ausgangspunkt schnell erreicht wird. Vom Kreuzjoch gehe ich noch alleine auf den Mitterzaigerkopf (2628 m), obwohl er entgegengesetzt zur geplanten Route ist, aber so nahe wirkt. Im Winter sind wir zuletzt wegen der großen Wechten an diesem Gipfel nicht bis zur Spitze gekommen. Dann zurück wieder zum Kreuzjoch (2563 m). Allein versuche ich die Spuren hinauf zum Kreuzjochkogel (2746 m) zu finden. Meine Begleiter sind inzwischen voraus gegangen und der folgende Abstieg und Übergang zur nächsten Scharte entlang einer scharfen Gratkante fordert mich dann mental. Ich mag diese abschüssigen kleinen Pergpfade einfach nicht, wo es immer gilt, ganz sauber Tritte zu finden – für die Hände gibt es nichts zu halten. Dann denke ich an Viktor Frankl und das, was er über den Umgang mit Angst so genial formulierte und vorlebte. Der Bachwandkopf (2762 m) ist der dritte Gipfel. Dort, wo im Winter das Skidepot ist, beginnt die Überschreitung des Rietzer Grießkogels. Er ist mit 2884 Metern der höchste und von vielen Seiten auch mächtigste Gipfel der Sellrainer Berge. Er ist mir von den Skitouren vertraut. Ab hier ist die weitere Route mit kräftigen rot-weißen Markierungen versehen. Wir treffen drei Frauen. Sie machen die Sellrainer Runde, ein mehrtägiges Hütten-Trekking. Für uns bleiben sie die einzigen menschlichen Begegnungen, die wir an diesem Tag haben. Mächtig leuchtet das riesige Eisenkreuz am Gipfel des Grießkogels und hebt sich vom schwarzen Felsen, dem tiefblauen Himmel und den weißen Wolken ab. Tief unten im Osten liegt die Stadt, in der ich jetzt lebe, und wären da nicht Hochhäuser davor, könnte ich von der Wohnung aus auf den Gipfel blicken. Unter uns breitet sich das Inntal aus und dahinter die ganze Szenerie von Mieminger Kette, Wettersteingebirge, im Süden die mächtigen Berge der Stubaier Alpen mit unseren Zielen, die wir im Winter mit den Skiern anstreben. Am gegenüberliegenden Finstertalsee war ich erst kürzlich mit dem Rennrad. Im Nachbartal ist die Baustelle für den neuen Speichersee. Mein Freund ist die weitere Route erst kürzlich gegangen und vermittelt Sicherheit. Optisch gesehen sieht der Übergang zum nächsten Gipfel, dem Hocheder, nicht einfach aus. Doch ist der Steig – der rund 150 Meter unterhalb des Gipfels abzweigt – dann gut markiert und geht im Zickzack die andere Seite des Grießkogels hinunter. Zum Glück sind hinauf dann einige Stahlseile und der Gipfelgrat ist viel breiter, als man es von unten vermuten könnte. Fünfter Gipfel heute. Der Abstieg vom Hocheder folgt zum Joch hinunter wie der Aufstieg, dann führt die Runde in das Flaurlinger Tal hinunter. Es ist ein Stück Tirol, das ich heute kennenlernen darf. Eine einsame und weitläufige Berggegend. Schafe weiden in kleinen Gruppen bis weit hinauf. Ein Herdenschutz, wie er in den Tälern unten diskutiert wird und als Wolfsdiskussion medial seit Jahren geführt wird, ist hier wohl nicht durchführbar. Murmeltiere haben sich für den Winter bereits dick gefressen und geben Warnpfiffe von sich. Kristallklares Wasser kommt aus Quellen. Tief unten ist die Flaurlinger Alm. Der Grieskogel sieht von dieser Seite aus ganz besonders mächtig aus. Der Steig quert die Hänge der längst verblühten Alpenrosen. Dazwischen leuchten jetzt aber rot die Granten und immer wieder klaube ich ein paar davon. Ich mag ihren herben Geschmack. Die Grashalme haben den Frühling und Sommer hinter sich und sind braun geworden. Noch einmal heißt es, 250 Meter auf die Flaurlinger Scharte (2602 m) zu steigen, um dann auf die Sellrainer Seite zu wechseln. Der Weg ist gut markiert. Kühe glotzen neugierig, so als hätten sie tagelang schon keinen Menschen mehr gesehen. Die untergehende Sonne beleuchtet wie ein riesengroßer Scheinwerfer die Hotels und Liftanlagen am Kühtaisattel. Die Berge ringsherum sind im Schatten der Wolken. Eine Gruppe von Motorradfahrern erzeugt auf der Sellrainer Landesstraße einen Höllenlärm und schreckt uns irgendwie zurück aus der Einsamkeit und Ruhe der eben erlebten Stunden. Gemessen hat mein Garmin 1687 Höhenmeter und 18 Kilometer. In uns bleibt die Erinnerung an eine wunderbar-einsame Bergwelt, an Freundschaft, an Dialoge, die in die Tiefe gehen und an innere Monologe, die wie eine Meditation sind und nicht minder Seelenleben zutage bringen, an ausgesetzte Grate und Gipfel und sanfte Almböden, an den Geschmack von Granten und Moosbeeren und eiskaltem Quellwasser sowie an das Spiel des Windes mit den weißen Wolken im blauen Himmel. Mir ist mein privilegierter Status bewusst, dies alles erleben zu können, während so viele Menschen auf der Welt den Kampf um ein physisches oder psychisches Überleben führen. So möchte ich solche Tage als Kraftquelle sehen für mein politisches Engagement gegen das, was unseren Planeten kaputt macht, und für das, was dem Leben Sinn und Freude schenkt.