Freiger-Gefühle

Zum dritten Mal in diesem Sommer ist der Wilde Freiger das Gipfelziel. Wie so oft im Leben ereignen sich Ziele. Sie sind nicht geplant, sondern geschenkt aus der Begegnung mit Menschen, aus Verknüpfungen von meiner Leidenschaft für die Berge, meiner Freude an der Natur und an Bewegung, an Freundschaft und dem Willen, Himmel und Erde zu verknüpfen und dabei selbst in schwierigen Lebenssituationen die Balance nicht zu verlieren. Der 3418 Meter hohe Berg im hinteren Stubaital an der Grenze zwischen Nord- und Südtirol ist dafür wohl bestens geeignet und es passt auch, ihn im Laufe eines Sommers mehrmals zu erfahren. Vor allem aber gilt: Nicht die Spitze macht die ganze Schönheit des Berges aus, sondern der gesamte Weg, hinauf und hinunter, und selbst der gleiche Berg fühlt sich jedes Mal ganz neu an.

Diesmal geht es nicht wie zuletzt Mitte Juni und Mitte Juli über Sulzenauhütte und Müllergrat, sondern den „Normalanstieg“ über Bsuchalm, Nürnberger Hütte und Seescharte. Diesmal wird es auch eine Tagestour sein ohne Hüttenübernachtung. Die Route ist mir vertraut. Wir sind heute zu dritt. Sonntagmorgen im beginnenden Herbst. Start auf 1370 m. Mehr als 2000 Höhenmeter Aufstieg werden es sein. Noch im Dunkel der Nacht gehen wir hinein ins Langetal. Kurz vor der Bsuchalm wird es hell. Der erste Aufschwung hinauf zur Nürnberger Hütte beginnt. Der Steig ist vom vergangenen Regen lettig. Das Wetter wird heute stabil sein. Die Serpentinen hinauf fühlen sich gut an. Schwerer, viel schwerer als Körper und Rucksack zusammen wiegen manche Gedanken und Gefühle, die in meinem Kopf und Herzen arbeiten. Nürnberger Hütte. Von der aufgehenden Sonne werden die ersten Gipfel mit einem orange-roten Licht gefärbt. Wer öffentlich anreist und Mitglied beim DAV anreist, kann hier gratis übernachten: Eine so wichtige Geste des Alpenvereins in Zeiten der Erderhitzung! Einige Gruppen, die auf der Hütte übernachteten, machen sich gerade auf den Weg. Wir gehen gleich weiter bis zur Seescharte und machen dort eine Pause. Mächtig abweisend ist der Südgrat zur Urfallspitze; im Westen geht es zur Sulzenauhütte hinunter. Der Gipfel des Wilden Freiger wird schon sichtbar und wirkt nahe. Die kargen Reste des Grüblferners sind im Osten. Der Eingang zu einem Gletscherschloss, aus dem der Gletscherbach fließt, liegt einige hundert Höhenmeter unterhalb des Abbruchs. Das Eis darüber ist mit braun-grauem Schutt bedeckt. Über die rapid schmelzenden Gletscher habe ich zuletzt viel geschrieben. Noch deutlicher wird mir das auch heute wieder bewusst. Das kurze Firnfeld beim Aufstieg ist schneefrei. Nur etwas Eis ist darunter – und zum Glück gibt es da ein Fixseil. Bei der leichten Gratkletterei bin ich vorsichtig. An zwei drei Stellen heißt es, den Füßen gut zu vertrauen, die auf glatten Felsen auf Reibung gehen. Mein Freund ist da jedenfalls viel sicherer und meine fallweise Hosenbodenklettereinlage findet er weniger gut. Rechts vom Grat tief unten ist der Wilde Freiger Ferner – nun mit klaffenden Spalten. In sattem Türkis leuchten die Ferner Seen.

Lange sitze ich am Gipfel auf den hellen Granat-Blöcken des hier so typischen Ötztal-Stubai-Kristallin Gesteins. Eine Vierergruppe von Männern und Frauen – sie arbeiten an einer Hochschule in München – treffe ich gleich mehrmals heute und ich mag es, etwas an ihre Gemeinschaft anzustoßen. Eltern begleiten ihren Sohn, der den letzten der 7 Summits des Stubaitales schafft – und Papa und Mama wie Sohn sind zurecht glücklich darüber. Innerhalb kurzer Zeit werden mir hier am Berg Menschen vertrauter, als die Fülle an Menschen in der Stadt innerhalb von einem Jahr. Ich denke auch an die Frau aus Nordirland, mit der ich morgens beim Aufstieg auf der Nürnberger Hütte redete und die so strahlte über die Schönheit der Bergwelt, oder an den Schäfer mit seinem Hirtenstock, der nach seinen 240 Schafen sichtete, die in dem weitläufigen Gelände verstreut sind und am nächsten Wochenende ins Tal hinunter getrieben werden, oder an den britischen Trailrunner und die zwei Frauen aus Deutschland, die wie so viele Hüttengäste auf dem Stubaier Höhenweg unterwegs sind und mit denen wir nach der Tour noch bei einem Radler an einem Tisch saßen.

Beim Abstieg mache ich noch den Abstecher auf das Gamsspitzl (3052 m) und genieße von dort oben das eindrucksvolle Panorama. Tief unten ist der Grünausee und am liebsten möchte ich wieder wie zuletzt dort kurz schwimmen. Am Ende der Tour sind es 2320 Höhenmeter geworden, verteilt auf 25 Kilometer. Es wird wieder zurück in die Stadt gehen, dorthin, wo Menschen einander nicht grüßen, wenn sie sich zufällig begegnen, und oft Tür an Tür nebeneinander wohnen, ohne sich zu kennen, wo die Luft nicht nach dem Regen des gestrigen Tages riecht und der Blick in den Himmel verstellt ist. So anders ist das Leben im hochalpinen Gebirge.

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