Die Laufveranstaltung – ich schreibe nicht von einem Laufevent – wird mit vielen Anglizismen beworben. Zufällig sah ich am Tag davor am Radweg das Plakat: „Nordkette Vertical Run: From City to Peak“. Gemeint ist die Strecke von Innsbruck auf die Seegrube, von 573 m bis auf 1905 m. Das sind 6,7 Kilometer und 1332 hm. Beim Frühstück überlege ich mir mit einem Blick in den regenvollen Himmel und die Wolkenfront auf der Nordkette, dass ich wieder einmal dabei sein könnte. Der Lauf ist vor meiner Haustür und für ein anderes Bergabenteuer ist das Wetter nicht passend. Die Homepage verrät mir, dass Nachmeldungen noch möglich seien. Als meine Kinder klein waren, nahm ich mehrmals am Seegrubenlauf teil, wie er damals hieß. Start war beim Goldenen Dachl. Vieles hat sich seither verändert. Die alte Bahn auf die Hungerburg wurde durch die kühnen Stationen der Architektin Zaha Hadid ersetzt. Start ist heute bei der Station „Löwenhaus“. 76 ist meine Startnummer. Insgesamt werden es 67 Starter sein, so der Platzsprecher. Ich schaue mich um. Mit T-Shirt laufen wird nicht passend sein. Oben soll es nicht wenig Schnee haben, meint ein Läufer neben mir. Eines ist gewiss: Alle anderen Läuferinnen und Läufer sind jünger als ich. Meine Rennstrategie lautet: Ich werde mein Tempo laufen, auf den Puls und mein Herz achten, so dass sich der Körper immer noch genügend angenehm anfühlt. Mein Garmin hat also nicht die Zeit eingestellt, sondern die Herzfrequenz. Beim letzten Rennen war mir die Zeit wichtig und bei den Bergläufen reihte ich mich immer ganz vorne ein. Heute mache ich es umgekehrt und starte von hinten. Schon vom Start weg regnet es. Das stört mich nicht. Bis zur Hungerburg hinauf verwende ich die Stöcke nicht. Dann werden sie immer wichtiger. Der vertikale Weg über Wurzeln und Treppen ist lettig und rutschig. Die Brille läuft an. Der Regen hat sich in Schneefall verwandelt. Ich mag den Duft von Schnee. Die Kleidung fühlt sich nass an. Manchmal weist ein Baustellenband den Weg. Die Mütze ist schwer geworden. Auf Innsbruck steilster Treppe mit den vielen Holzstufen liegt Schnee. Ich überhole mühelos den Läufer vor mir und bin dann ganz überrascht, dass das Ziel – die Seegrubenstation – so schnell da ist. Ich hatte sie noch viel höher vermutet. Meine Zeit bleibt unter 1:30 h. Heute wartet nicht mehr meine Familie auf den Läufer mit dem roten T-Shirt, der sich immer besonders beeilte, um schnell bei den Lieben zu sein. Und ich nehme nicht mehr – mit meinem damals kleinen Sohn am Rücken – den Weg zu Fuß hinunter, sondern es geht mit der Bahn zurück in die Stadt. Eine Läuferin erzählt mir dabei mit einem Strahlen in den Augen von ihren Skitourenrennen. Der nächste Winter kommt bestimmt. Auf meiner Kappe sind noch ein paar Schneeflocken. Sie sind wohl genauso verloren in der Stadt wie ich.
17. 9. 2022, Sabbaticaltexte #5