Ranggen
Auf eine Terrasse und in eine Mulde gebettet, so dass es vom geschäftigen Inntal und der nahen Stadt Innsbruck aus nicht wahrgenommen wird, liegt das 1000-Seelen-Dorf Ranggen. Die Besonderheit dieses Ortes liegt schon darin, dass es nicht so ausgesprochen wie geschrieben wird. Die Lautqualität des A liegt Tirolerisch irgendwo zwischen a und o und auch das E wird wohl nicht artikuliert. Der Ortsname ist daher geeignet, um Tiroler Dialekt zu üben. Meine Kinder waren jedenfalls stets amüsiert über den „Ra/onggn“ Brot, den ich aus einem Leib schnitt, und einmal bekam ich ein Brotmesser geschenkt, um doch kleinere Stücke zu schneiden. Kommt von dieser „Ranggn“-Bedeutung der Ortsname, frage ich mich, während ich dem Dorf zufahre und an Menschen denke, die aus diesem Dorf kommen und irgendwann in meinem Leben Bedeutsamkeit hatten. Innsbruck ist nur 12 Kilometer entfernt. Auf der Fahrt nach Völs regnete es noch leicht und ich wurde etwas nass. Jetzt hat sich am Himmel die Feuchtigkeit zu kräftig weißen Schönwetterwolken zusammengezogen, die so weiß sind wie der Schnee, der in den letzten Tag bis zur Waldgrenze hinuntergekommen ist. Inmitten der kleinen Ortschaft wirkt die Dorfkirche riesig. Der lateinische Namen ihres Patrons, Magnus, passt dazu. Heute wird das „Magnum“-Speiseis des Unilever-Konzerns bekannter sein als die Legenden dieses Heiligen. Sie führen ans Ende des 1. Jahrtausends, sind verknüpft mit Sagen, Legenden und Wundergeschichten von Blindenheilung und gezähmten Bären und getöteten Drachen. Und schon sind meine Gedanken bei den Drachen im Heute und ich wünsche mir, dass sie gezähmt und nicht getötet würden, dass sie sich bekehrten und sich nicht sterbend im Blut wälzen müssten.
Besinnungsweg zur Barmherzigkeit
Nach den Regentagen ist der Wald ganz besonders. Das Moos hat sich mit Feuchtigkeit wie ein Schwamm vollgesaugt. Überall schießen die Pilze aus dem Boden. Den steilen Wald hinauf führt ein Besinnungsweg zum Thema Barmherzigkeit. Er beginnt gleich nach der Ortschaft und führt über einen wurzeligen Weg Richtung Rangger Köpfl. Schon lange wollte ich ihn kennenlernen. Das Sabbatical gibt mir jetzt Gelegenheit dazu. Auf den großen rostigen Tafeln steht viel Text zu den bekannten sieben leiblichen Werken der Barmherzigkeit. Die rostige Tafelfarbe bei jeder Station entspricht den Farbtönen des Waldes. So sind die Eisentafeln trotz ihrer Größe nicht störend. Freilich würde ein Satz genügen, da die Gestaltung jeder einzelnen Station für sich spricht: Die kleine Brücke über das Bächlein mit den dicken Eisenseilen erinnert an „Gefangene besuchen“. Eine nackte Figur, die aus einem Marmorblock geschnitzt ist und zur Hälfte noch Stein ist, will „Nackte bekleiden“ darstellen. Zum Thema „Hungrige speisen“ wurde unter die Bäume ein Tisch mit einer großen Steinplatte aufgestellt und Bänke rundherum laden zum Brotzeitteilen ein. „Fremde beherbergen“, so die Waldinstallation, würde bedeuten, Platz zu nehmen und miteinander in Dialog zu treten. Aus Baumstümpfen wurden Sitzplätze angeordnet. Dort, wo der kleine Bach zu einem Wasserfall wird, steht „Durstige tränken“. An „Kranke besuchen“ erinnert eine Skulptur, die halb aus Holz, halb aus dicken Eisendrähten ist, in denen schwere Steine sich befinden. Der Körper ist verletzlich. Das siebte Werk der Barmherzigkeit ist als Steingrab dargestellt, auf dem eine eiserne Rose liegt. „Tote begraben“. „Weg der Befreiung“ – so wird der Besinnungsweg auch genannt. Tatsächlich: Eine konkretere Handlungsanleitung für das Menschsein und Menschwerdenkönnen gibt es wohl nicht. Dafür hat der Heilige Magnus sich mit seinen Gefährten wohl auch mit Bären und Drachen angelegt.
Rangger Köpfl
Steil führt vom Ende des Besinnungsweges durch den Zauberwald ein Steig zum Rangger Köpfl (1939 m). Die Rosskogelhütte ist heute geschlossen. Die Liftanlagen erinnern an vergangene Winterzeit und an das, was wieder kommen wird. Der Rosskogel im Westen könnte als formvollendeter Berg bezeichnet werden. Heute ist er malerisch mit Weiß überzogen. Die Almböden sind weich wie ein Daunenbett. Grantn und Moosbeeren sind Geschenke der Natur. Zwischen den Almkräuterbuschen liegen Schneereste. Schottische Hochlandrinder passen in die Landschaft hinein. Am Wetterkreuz auf dem Gipfel steht auf den zwei Querbalken die Bitte: „UNSER GELIEBTES KLEINES LAND: SCHÜTZ ES VOR HAGEL, MUR, ATOM UND BRAND“ Atom? Jene, die auch diese Gefahr benannten, hatten Weitsicht, wenn ich an das gefährliche Geplänkel mit taktischen Atomwaffen denke, das im Ukraine-Krieg zumindest rhetorisch gespielt wird. Unwetterkatastrophen heute sind vor allem Folge der Erderhitzung und so lädt das Kreuz wohl auch ein, sich am weltweiten Klimastreik von Fridays-for-Future zu beteiligen.
klaus.heidegger, 20.9.2022