nicht drinnen, sondern draußen
nicht aufgenommen, sondern abgeschoben
nicht beachtet, sondern übersehen
er gehört nicht dazu
hinter den Türen wird gefeiert
es gibt genügend Brot
es wird getanzt und gelacht
er gehört nicht dazu
er hört die Musik
er riecht das frische Brot
er sehnt sich nach Gemeinschaft
er gehört nicht dazu
hinter den Türen ist es nobel
man kleidet sich in königlichen Purpur
man trägt priesterliche Gewänder aus Leinen
man gehört zur besseren Gesellschaft
Hunde lecken an seinen Geschwüren
ausgesetzt dem Wind und dem Wetter
er hat einen Namen
Lazarus gehört nicht dazu
er ist nun in Abrahams Schoß
er kann feiern und lachen
er hat Brot und Wein
Lazarus angekommen hinter den himmlischen Türen
klaus.heidegger, 24.9.2022
(zu Lk 16,19-31)
Eine existenzielle Deutung der Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Prasser
Der Name Lazarus
Wenn wir den Namen Lazarus hören, denken wir meistens zunächst an eine andere Geschichte. Auch der Mann, den Jesus laut Johannesevangelium von den Toten auferweckt, trägt den Namen Lazarus. Mit der Beispielerzählung in Lk 16,19-32 hat dieser Auferweckte nichts zu tun. Die Wortbedeutung passt jedoch für beide Erzählungen. Lazarus heißt auf Hebräisch El-Azahr was heißt: Gott hat geholfen. Der Begriff Lazarett hat hier seinen etymologischen Ursprung. Sicher ist der Name Lazarus für die Geschichte nicht zufällig gewählt. Sie führt uns zu zwei Fragen: Wo und wie kann göttliche Hilfe erfahrbar werden, so dass im Nachhinein gesagt werden kann: „Gott hat geholfen!“ Bewusst hat der Arme bzw. die Armut in dieser lukanischen Geschichte einen Namen bekommen, so wie der Blinde eben auch nicht namenlos bleibt, sondern Bartimäus heißt. In der Gottesherrschaft bekommen die Armen, Verzweifelten, An-den-Rand-Gedrängten und Traurigen einen Namen, wobei die in ihrem Reichtum Verschlossenen nicht namentlich genannt werden. Die Frage für uns lautet: Welcher Armut in unserer Gesellschaft oder in unseren Lebenskontexten geben wir einen Namen? Wo entdecken wir bei uns Grundhaltungen des reichen Prassers und wollen und können wir uns den Nöten von Menschen um uns oder in der Welt nicht öffnen?
Exegetische Hinweise
Formgeschichtlich ist die Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Prasser eine typische Beispielerzählung, die uns exemplarisch verdeutlichen will, wie menschliches Leben gelingen kann. Damit werden nicht reale Aussagen über den Himmel oder die Hölle gemacht, wie es gerne in solche Geschichten fälschlicherweise hineingelegt wird. Die Beispielerzählung ist typisch für das lukanische Sondergut – jenem Quellenmaterial, das von der lukanischen Redakteursgruppe im Jahre 80 rund um die Jesusworte und die Vorlage aus dem Markusevangelium konstruiert worden ist. Man geht davon aus, dass zu dieser Zeit Spannungen zwischen Reichen und Armen in der Gemeinde vorhanden waren. Der Typos vom „gerechten Leidenden“ gehört zur jüdischen Mystik – spätestens seit dem babylonischen Exil, las 90 Prozent der Bevölkerung verarmt war. Man wusste: Armut ist nicht eine Strafe Gottes für ungerechtes Verhalten.
Lazaruserfahrungen im Heute
Wenn wir an Lazarus in der heutigen Zeit denken, dann gäbe es viele Beispiele: Die materiell Armen oder Verarmten, die vor den Türen der Reichen liegen, gibt es in den Spaltungen zwischen dem Norden und den Ländern im globalen Süden, zwischen denen in unserem Land, die mehr als ausreichend Besitz und Einkommen habe und jenen, die mit den gegenwärtigen Teuerungen kaum mehr zurecht kommen. Die Lazarusse heute sind die Flüchtlinge, die an den Wohlstandsmauern scheitern. Sicherlich hatte die lukanische Gemeinde wirtschaftliche Ungleichheiten im Blick.
Reichtumskritik
Aufpassen müssen wir freilich, nicht in eine plumpe klassenkämpferische Anti-Reichen-Rhetorik zu rutschen. Das würde dem Sinn des Evangeliums nicht entsprechen. Es geht nicht um eine Kritik an „den Reichen“, sondern um eine Kritik an einer Grundhaltung, die in diesem Fall mit Reichtum verknüpft ist. Kritisiert wird, dass der geschilderte Reiche gar nicht wahrnehmen will, dass da vor seinen Toren ein Mensch ist, der Hilfe bräuchte und dem er helfen könnte. Es geht also um eine verweigerte Hilfeleistung, um mangelnde Empathie dem Leidenden gegenüber.
Himmel und Hölle
Eine höchst bedenkliche Leseart des Evangeliums hat sich freilich auch festgefressen in den Köpfen der Menschen. Man liest die Geschichte wie eine Straf- und Drohpredigt. Der böse reiche Prasser wird im Jenseits bestraft, während der gerechte Leidende im Himmel belohnt wird. Eine solches Narrativ ist tiefste schwarze Pädagogik, die dem Wesen jeder barmherzigen Religion widerspricht. Wenn Jesus – bzw. eben seine Redakteure – von Himmel und Hölle sprechen, dann geht es nicht um jenseitige Wirklichkeiten, die nach dem Tod einmal eintreten, sondern um realpräsentische Zustände. Hölle ist das, was Jean Paul Sartre in seinem existenzialistischen Werk „Eine geschlossene Gesellschaft“ in einem Schlüsselsatz so formulierte: „Die Hölle, das sind die anderen!“
Die Hölle, das ist letztlich der Lockdown, in den sich der Reiche begeben hat, das ist Sartres „Geschlossene Gesellschaft“. In diesem kurzen Stück erzählt Jean-Paul Satre von drei Menschen, die in einem Raum eingesperrt sind. Da findet man nicht wie in biblischen Erzählungen Folterwerkzeuge oder ewiges Feuer. Es gibt aber weder Tag noch Nacht und die Eingeschlossenen haben keine Augenlider, mit denen sie ihre Blicke verstecken könnten. Sie können einander nicht entkommen. Ihr Versuch, den anderen etwas vorzumachen, um bewundert zu werden, scheitert. Sie sind eingeschlossen, solange sie abhängig sind vom wohlwollenden Blick der anderen.
Diese Höllensicht eröffnet dann den Blick, was eben der Himmel sein könnte: Wenn wir die Möglichkeit ergreifen, unsere Freiheit zu leben, wo der Blick des anderen mich nicht festlegt und reduziert auf das, was ich sein soll oder gewesen bin, sondern darauf, was ich in Freiheit leben könnte. Im optimistischen Pessimismus von Sartre liegt freilich immer auch die Kernaussage der Lazarusgeschichte. Er braucht jemanden, der sein Sehnen zur Erfüllung bringen kann. Es ist immer zugleich eine bedingte Freiheit, die uns Menschen geschenkt ist.
Ausgrenzungserfahrungen
Wir können an viele andere Situation denken, wo Menschen ausgegrenzt werden – quasi vor den Türen liegen. Lazaruserfahrungen gibt es rund um uns und in unserem eigenen Leben. Dann, wenn Menschen nicht in eine Gemeinschaft hinein kommen können, wenn sie ausgestoßen werden, wenn sie vielleicht selbstverschuldet in sich vergraben sind, wenn strukturelle Umstände Ausschlusssituationen erzeugen, wenn die Sehnsucht nach Gemeinschaft und einem Dazugehören unbeantwortet bleibt.
Wir erleben allerdings genauso, wie gut es uns selbst tut, wenn wir uns von der Haltung des reichen Prassers selbst oder mit Hilfe von anderen befreien können, wenn Türen aufgehen und neues, frisches Leben einziehen kann. Da sind selbst kleine Alltagserfahrungen von offenen Türen und damit offenen Herzen heilend und wohltuend, dass ein kleines Stück Himmelreich spürbar wird. Auf einer solchen Erfahrungsebene lässt sich dann als Antithese zu Sartre postulieren: „Der Himmel, das sind die anderen.“ Um es konkret zu nennen: Der Himmel sind Menschen, die deine Wunden mit einem heilenden Blick sehen. Der Himmel ist die wechselseitige Erfahrung: Wir werden uns nie – und schon gar nicht, wenn wir einander brauchen – vor den Toren liegen lassen.
Klaus Heidegger, Gedanken zum Sonntagsevangelium, 25. 9. 2022