Die Fernsehbilder vom Krieg in der Ukraine in den vergangenen Monaten sind kaum zu ertragen. Wie viel schrecklicher noch muss die Wirklichkeit sein, die wir nicht in den übertragenen Bildern sehen: die zerschossenen Körper von Soldaten, die Verstümmelungen, das Leid der Menschen in den Spitälern und der Schmerz, wenn Kinder ihre Väter verlieren oder Eltern ihre Kinder oder der Geliebte nicht mehr da sein wird. Die militärische Eskalation geht weiter. Die Schrauben von Gewalt und Gegengewalt drehen sich. Die Waffenarsenale werden aufgestockt.
Mit solchen beunruhigenden Kriegsbildern im Kopf stehe ich 23 Meter über dem Boden auf dem Gerüst, das zur Renovierung der Deckenfreskos im Innsbrucker Dom aufgebaut ist. Ganz nahe sehe ich die frisch gesäuberten Gemälde, die vor 300 Jahren entstanden und nach den Bombenschäden des Zweiten Weltkriegs wieder restauriert worden sind. Besonders dramatisch dargestellt ist der Höllensturz im südlichen Teil des Langhauses. Der Erzengel Michael stößt zwei kräftige Männer in die Hölle. Einem davon ragt eine Schwertspitze aus dem nackten Körper und er greift sich auf den Kopf, aus dem ein halbes Dutzend grässlicher Schlangen sich windet. Gott als Himmelvater scheint seinen göttlichen Segen dazu zu geben und es ist, als würde darunter der Hl. Jakobus – der Star dieser Kirche – den blaugewandeten Erzengel zu dieser Aufgabe des Höllensturzes schicken. Die Volks-Theologie dahinter: MICHA-EL – das heißt übersetzt „so ist Gott“ – zeigt, was Gott will: Die Bösewichte werden bestraft. „PUTIN GO TO HELL“, las ich bereits mehrmals auf irgendwelchen Graffitis. Da passt auf der südwestlichen Seite des Gemäldes dann auch der Engel dazu, der in seiner starken Hand und mit einem extrem muskulären Arm ein Schwert in die Höhe hält. Unter ihm das Waffenarsenal der Ritterzeit: Helm und Hellebarden. Dazu passt auch das Gemälde in der Chorkuppel, das Jakobus auf einem weißen Kampfross und als strahlenden Sieger über die Mauren darstellt. Auf seinem Ritterhelm ist ein goldglänzendes Kreuz. Der Apostel Jakobus wird als Kreuzritter gegen die Muslime stilisiert. War aber der zentrale Jünger Jesu nicht viel mehr in der Tradition des jesuanischen Gewaltverzichts? Zur Nachfolge Jesu passen besser die Fresken in der mittleren Hälfte des Langhauses. Sie zeigen die Legenden, wo Jakobus einem jungen Mann, der Opfer einer Verschwörung durch eine in ihn verliebte Frau wird, vom Galgen rettet.
Bislang sah ich die Fresken immer nur von tief unten. Da glaubte man auch, dass die Decke aus hohen Kuppeln bestehe. Doch ist das eigentlich wie ein Fake. Durch Perspektivenmalerei wird dieser Eindruck erweckt. Tatsächlich ist es eine Flachdecke. Es wäre wünschenswert, wenn wir in unserem religiösen Sprechen heute und im Handeln der Kirche in der Gegenwart wieder unterscheiden könnten: Was ist das, was Jesus in seiner Nachfolge erwartet – und was ist das Gegenteil davon. Dort, wo Gewalt – auch als Gegengewalt – religiös legitimiert wird, dort ist wohl kein Bezug zum gewaltfreien Leben Jesu und zu seiner Lehre vom Gewaltverzicht gegeben. Vom Dompropst Florian Huber selbst stammt die Aussage: „Wir sagen immer, dass wir aus der Geschichte lernen. Religiöse Gewalt ist heute nicht mehr gerechtfertigt. Das haben noch nicht alle gelernt.“ Die Eskalation in der Art der Kriegsführung in der Ukraine mit enormen Rüstungsanstrengungen ist ein Beweis, dass militärische Mittel kontraproduktiv sind. Es bräuchte andere Lösungen, jene, die Jakobus als Wanderprediger gelebt und gelehrt hat.
klaus.heidegger, 8. Oktober 2022