Herbstliche Rennradrunde im Grenzgebiet

Kufstein und Wahlsonntag

Die Straßen sind nass von vergangener Regennacht. Wolken und Nebel hängen in den buntgefärbten Laubmischwäldern. Der Start ist an diesem Herbstsonntag in Kufstein. Zuletzt fuhr ich die klassische Runde Kufstein-Thiersee-Bayrisch Zell-Tatzlwurm-Oberaudorf-Kufstein vor vielen Jahren in Begleitung meines rennradbegeisterten jungen Sohnes. Damals nicht alleine. Die mächtige Festung Kufstein im Rücken und unter den massiven Pfeilern der Inntalautobahn durch beginnt gleich nach 10 Minuten die erste sanfte Steigung. Wahlsonntag ist heute. Der neue bzw. der alte Bundespräsident sind zum Wählen. Zum Glück werden die blauen Plakate des blauen Kandidaten bald Geschichte sein, denke ich mir bei der ersten Kehre. Noch stehen die Riesenwerbeflächen entlang der Straßen. „Im Auftrag des Volkes!“ Mögen die Anspielungen auf völkisches Bewusstsein eines Burschenschaftlers, der sich als Epigone eines antisemitischen österreichischen Politikers anpries, endlich der Vergangenheit angehören. Die Serpentinen hinauf nach Thiersee sind ideal zum Aufwärmen.

Thiersee und die bleibende Passionsgeschichte

Nasse Verdunstungswolken liegen über dem See. Der Pendling steckt in Wolken. Meine Gedanken sind bei den Kindern, mit denen ich hier einen Campingurlaub verbrachte, an das Spielen im See und die Spaziergänge mit den damals Kleinen. Heute. Menschen gehen zu einem Sonntagsgottesdienst. Ich meditiere über das Sonntagsevangelium, das heute in den Kirchen gelesen wird. Auch in dieser Perikope geht es um ein Ereignis, das in einem Grenzgebiet geschieht. Heilungsprozesse geschehen oder ereignen sich ebendort, wo manche Grenzen in liebender, wertschätzender und aufmerksamer Begegnung überwunden werden, denke ich mir, und genieße den Rückenwind. Verlassen wirkt die Strecke nach Bayrisch-Zell. Bayern. Die Grenze zwischen Ländern existiert nicht in der Natur, sondern im Kopf. Der Blick in die Geschichte würde zeigen: Einmal gehörte diese Gegend zum Königreich Bayern, dann wieder zur Habsburger Monarchie, dann wieder zum Deutschen Reich, heute zu Österreich. Ich denke an die grausame Kriegspolitik von Regierenden, Länder zu erobern, an die Machtgelüste, Gebiete einzuverleiben. Dass die Bevölkerung nie den Krieg wollte, beweisen bis heute die Passionsspiele von Thiersee. Man gelobte 1799, dreimal jährlich in der Fastenzeit die Geschichte vom Leiden Jesu aufzuführen, um von den Qualen des Krieges verschont zu werden. Inzwischen werden die Spiele alle sechs Jahre in den Sommermonaten aufgeführt. Während es entlang der Wälder vom Thierseetal geht, denke ich an eine andere Passion, an den Krieg in der Ukraine. Die Kriegslogik auf BEIDEN! Seiten führt jeden Tag zu neuen Grausamkeiten und zur Eskalation.

Bayrisch Zell, Sudelfeldpass und einsame Tatzlwurmstraße

Angenehme 25 Kilometer nur sind es von Kufstein bis Bayrisch-Zell. Die Passhöhe heißt „Ursprung“ – aber man spürt gar nicht, dass man über einen Pass fährt. Markant steht der Wendelstein mit seinen Sendeanlagen im Norden der kleinen Fremdenverkehrsortschaft und die Auffahrtsrampe zum Tatzlwurm ist gleich sichtbar. Es sind allerdings nur 400 Höhenmetern hinauf zum Sudelfeldpass. Auf den Serpentinen hinunter sind Querstreifen, die ein schnelles Fahren eindämmen sollen. Bei der Abzweigung am Tatzelwurmparkplatz wähle ich spontan die kürzere Route nach rechts, ohne zu wissen, wohin mich das führen würde. Es wird zur wunderschönen Panoramastrecke hinunter ins Inntal. Auf der engen Straße gibt es kaum Verkehr. Rennradbegeisterten ist inzwischen wohl zu kalt geworden. Laub liegt auf den feuchten Straßen und ich fahre vorsichtig. Im Tal dann drängen sich Leute in der Ortschaft Oberaudorf bei einem Markt. Dem Inn entlang geht es zurück nach Kiefersfelden und zum Bahnhof in Kufstein, bevor mein Körper zu sehr auskühlt. Es war eine kleine Herbstrunde mit 56 Kilometern und fast genau 1000 Höhenmetern.

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