Heilung als Befreiungsprozess
Das jeweilige Sonntagsevangelium ist wie ein Ohrwurm, das mich die ganze Woche begleitet. Ich reflektiere es mit Blick auf mein eigenes Leben und auf die Ereignisse in der Welt. So war es auch diesmal mit der Geschichte aus dem Lukasevangelium (Lk 17,11-19). Lukas erzählt von den 10 Aussätzigen, die geheilt werden, wobei nur einer umkehrt, um Jesus für die Heilung zu danken. Die Perikope beginnt mit
„es geschah …“
Man könnte über diese zwei Worte hinweglesen oder sie als belanglose Einleitungsworte übersehen. Ich halte sie für bedeutungsvoll. „Es geschah …“, das bedeutet: Es ereignete sich WIRKLICH. Es geht um Fakten. Es geht um Taten. Es geht um ein verifizierbares Ereignis. Es ist keine Projektion, keine Träumerei und keine weltflüchtige Phantasie im Stil von „was könnte besser sein“. Was uns die lukanische Gemeinde berichtet, war Fakt, war überprüfbar. Es geschieht in der Zeit und mitten im Alltag.
Was könnte ich nun einsetzen für das unbestimmte Pronomen „es“? Am besten wohl: Heilung und Befreiung geschehen. Der Leser oder die Leserin mag sich nun auch selbstkritisch fragen: Wo sind solche Erfahrungen und Erlebnisse im eigenen Leben? Die Frage lässt sich nur dann beantworten, wenn klar ist: Um welche heilende Befreiung oder befreiende Heilung geht es? Wo bin ich selbst krank oder verletzt und daher heilungsbedürftig? Und wenn einer Antwort nachgespürt wird, kann ich mich selbst fragen: Wie geschieht Heilung für mich oder wie kann ich selbst heilend für andere sein?
„auf dem Weg …“
Jesus war mit seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem Weg. Dieser beschriebene Heilungsprozess geschieht dort, wo Menschen aufgebrochen sind und all das in Kauf nehmen, das damit verbunden ist: Bedrohungen, Unsicherheiten vor dem Unbekannten, aber auch Offenheit für erfüllende Begegnungen.
Ich selbst habe in den letzten Monaten immer wieder Begegnungserlebnisse gehabt, in denen ein Stück heilende Kraft erfahrbar war. Meist waren solche Wegbegegnungen ungeplant. Sie waren das, was religiös als „Gnade“ bezeichnet wird, als himmlisches Geschenk. Dann wünschte ich mir, dass solche Begegnungen von Dauer wären, um ihre Heilkraft zu erfahren.
„nach Jerusalem …“
Mit dieser Ortsbezeichnung wird das Evangelium höchst politisch. Jerusalem als Zentrum der religiös-politischen Macht wird durch das messianische Auftreten provoziert. Die brutale Staatsmacht und die korrupten Eliten des Volkes sollen herausgefordert werden durch eine neue Strategie der Feindesliebe, des Gewaltverzichts und der Barmherzigkeit. Nach Jerusalem bedeutet für Jesus daher auch höchste Gefahr.
„in ein Dorf …“
Zugleich beginnt der Befreiungsprozess in den Peripherien, nicht in den Zentren der ökonomisch-politischen Macht. Das Evangelium nennt nicht ein bestimmtes Dorf. Da gibt es im Laufe der Geschichte – und bis hinein in unsere privaten und politischen Lebenswirklichkeiten – viele Möglichkeiten, einen Namen für das Dörfliche zu finden. Dorf steht jedenfalls auch für einen Kontext, in dem Menschen sich nicht so leicht übersehen können, in dem man sich in die Augen blicken kann, in dem Not erkannt und Not so auch gelindert werden kann.
„im Grenzgebiet …“
Deutlicher wird das Evangelium mit einer anderen Ortsbezeichnung, die nicht zufällig sein dürfte in dieser Textkomposition. Jesus befindet sich in einem Gebiet, das an der Grenze lag. Es geht dabei wiederum um mehr als zwei unterschiedliche Länder oder zwei unterschiedliche Religionen – ja, das auch. Die Grenze kann auch woanders liegen: Überall dort, wo Menschen sich voneinander abgrenzen, wo Trennungen vollzogen werden und Einsamkeit und Enttäuschung zurückbleiben.
„10 Aussätzige …“
Der Fokus der Erzählung liegt auf den 10 Aussätzigen. Es sind Menschen, die meist wegen einer Krankheit vor den Toren eines Dorfes vegetieren müssen. Sie galten als „unrein“. Noch dazu sah man es meist als eine Strafe Gottes an, wenn jemand Aussatz hatte.
Ein Hinausgedrängtwerden wird aber auch heute immer wieder erfahrbar. Im Kontext von Schulklassen, wo in Mobbingsituationen ein Schüler oder eine Schülerin ausgegrenzt wird; im Arbeitsbereich, wo Karrieredenken oder auch nur Unachtsamkeit zum Ausgrenzen von Mitarbeitenden führt; durch politisch-ökonomische Strukturen, die eine Teilnahme vieler Menschen am gesellschaftlichen Leben erschweren; aber auch in Beziehungen, die durch abschätziges Verhalten krank werden.
„sie riefen …“
Immer wieder beginnt eine Heilungsgeschichte Jesu damit, dass der Erkrankte oder Leidende laut rief. Jesus reagiert nicht damit, dass er beschwichtigt, dass er das Leiden nicht ernst nimmt. Im Gegenteil: Das Benennendürfen von Leid und Schmerz ist der erste Schritt der Heilung. Ihm folgt ein aufmerksames Gehörtwerden. Und dann heißt es
„zeigt euch den Priestern …“
Aktivität auf Seiten der Aussätzigen ist notwendig. Sie verlassen ihre Opferrolle – nicht um Täter zu werden, sondern um zu jenen zu gehen, die Teil der Unterdrückung sind, in diesem ganzen Prozess aber selbst zu Kräften werden, die Heilung bestätigen können.
Die frohe Botschaft
So wird das Evangelium inmitten der so schlimmen Ereignisse in der Welt – des Krieges in der Ukraine, der Aufrüstung in vielen Ländern, der Energiekrise und der Erhitzung der Erde mit den katastrophalen Folgen in vielen Ländern – für mich zum tröstlichen Wort. Heilungsprozesse sind möglich. Auch im eigenen Lebenskontext, wo heilende Begegnungen geschenkt werden. Und wie der Samariter in der Geschichte aus dem Lukasevangelium möchte auch ich DANKE sagen für jene Menschen, die in dieser Welt als Heilkräfte aktiv sind – und selbst auch für jede heilende Begegnung.
Klaus Heidegger, 13.10.2022